Der Auftakt: ein Spektakel oder Ausdruck postmoderner Gedankenfreiheit!?

Die Eesti Muusika Päevad/Estnischen Musiktage in Tallinn beginnen wie immer mit dem Eröffnungskonzert

Vor dem Eingang zum Kanuti Gildi Saal in der Altstadt von Tallinn drängen sich die Menschenmassen. Verständlich, denn mit diesem Konzert beginnen die Estnischen Musiktage und die Veranstalter haben mit zeitgenössischer Tanzmusik und Multimedia einiges versprochen. Ich schaffe es kaum bis in den Saal, denn man hat den Beginn zunächst in den sogenannten Vorraum unter der steil aufsteigenden Zuschauertribüne des mit Jugenstil-Fassade ausgestatteten Saales verlegt. Seltsame wohlriechende Gerüche steigen in erstaunlich warmer Luft auf und wecken das Gefühl, sich in stickiger Hitze einer riesigen Großstadt zu befinden.

Genau dies soll auch so sein, denn wir befinden uns nun mitten in einer von Hupen, Dröhnen, Vogelgeschrei, Autolärm und von dergleichen Straßenlärm erfüllten Atmosphäre. Auf den Fensterbrettern der hohen Fenster bewegen sich Tänzer und Tänzerinnen mit unglaublichen, z.T. auch zeitlupenhaften Bewegungen, die Spannung steigt, denn niemand weiß, wie es weitergehen soll. Dann plötzlich verschwinden die Tänzer in die Höhe des Saales und geben somit das Zeichen, die Zuschauer mögen sich auf die eigentlichen Sitzplätze begeben. Einem unglaublich anregenden und Ohren, Augen und Geruchssinn betäubendem ersten Teil folgt nun ein durch seine offensichtliche „Sinnlosigkeit“ ebenso spannender zweiter Teil, wobei die Musik leider mit der Zeit deutlich an Niveau verliert. Der musikalische Teil des Ereignisses entwickelt sich später zu gehobener Disko-Musik. Nachdem die Instrumentalisten die Bühne verlassen haben, sind die Diskjockeys Herr der Situation.

Die Tänzer scheinen wie sinnlos herumzuirren, zwar jeder mit spezifischen und stereotypen Bewegungsabläufen, die jedoch von Zeit zu Zeit gewechselt werden. Einer der vier jedoch tanzt nicht, sondern geht langsamen Schrittes, wie hypnotisiert vor der Bühne entlang, um unter den Zuschauern zu verschwinden. Ja, später beginnt auch er zu tanzen und vollführt im Unterschied zu seinen Kameraden sehr kunstvolle Bewegungen, doch er unterbricht sie schnell, um wieder in grüblerische Apathie zu verfallen, die er nur durch eine tief nachdenkliche Rede über den Sinn der Lebens unterbricht. Es ist wahr, dass man deutliche Wechsel in der Lichtregie, der Schuhbekleidung der Tänzer und auch der Frische der Bewegungen erkennen kann, doch dies wird alles erst später bewußt. Zunächst ist man wie gebannt und versteht noch nicht so recht, was hier passiert.

In dem Moment, wo der nach einiger Zeit und in völliger Dunkelheit über die gesamte Zuschauertribüne ausgebreitete weiße Gazevorhang wieder weggezogen wird, hellt das Licht schnell auf und es wird klar: Hier war man als Zuschauer unter einer Schneedecke verborgen und wird nun Zeuge eines neu erwachenden Jugendlebens auf der Bühne. Als sei nach langem dunklem Winter endlich der Frühling gekommen. Nun konnte der erste Teil mit seiner Hitze der schwüle Sommer gewesen sein, doch auch dies wird erst lange nach dem Konzert klar, denn die Überschrift „Jahreszeiten“ steht im Programmheft nur einmal und recht klein. Geworben wurde mit Tanzmusik.

Die Tänzer gebärden sich als seien sie die Verkörperung der vier Temperamente, doch all diesem kann die Musik nichts Entsprechendes dazugeben. Sie verändert leider nicht wesentlich ihren Stil, bleibt rhythmisch eintöniges Getöse aus lauten Lautsprechern. Wenn man abwechslungsreiche Tanzmusik erwartet hatte, so wird man spätestens jetzt enttäuscht. Das Ende ist offen, es kommt so unerwartet, dass keiner im Saal es glauben möchte. Aber vielleicht gehört dies ja zum Konzept dazu. Ein Konzept, das Tänzer, bildende Künstler, Videokünstler (deren künstlerische Möglichkeiten diesmal überhaupt nicht ausgeschöpft waren), Musiker der ernsten, zeitgenössischen Musik und der zeitgenössischen populären Musik vereint. Die Eindrücke dieses im wahrsten Sinne des Wortes multimedialen Ereignisses werden auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben, gerade weil sie so polarisierend sind.

Ob das Konzert ein reines Spektakel war oder Ausdruck von künstlerischer Freiheit im Augenblick der reinen Wahrnehmung von zu kunsthafter Handlung erhobener Aktion, bleibt dem jeweiligen Betrachter selbst überlassen. Auf jeden Fall waren alle Sinne angesprochen, man hat hier etwas Ungewöhnliches probiert und damit dem oft sehr ungeliebten Begriff „Postmoderne“ neue Nahrung gegeben. Ein spektakulär begonnenes Festival ist in jedem Falle ein guter Festivalauftakt. Es zeigt die Offenheit der Organisatoren und Künstler für das wahrlich zeitgenössische Leben der kulturell brodelnden nordischen Schönheit Tallinn.
Anmerkung:

Die Tradition der Estnischen Musiktage/Eesti Muusika Päevad (EMP) (www.emic.kul.ee) reicht bis ins Jahr 1979 zurück, als man das Festival gründete, um die neue estnische Musik aufführen zu können. Es ist bis heute eine Bühne für die jungen estnischen Komponisten und eine sichere Bank für die schon etablierten Klangschöpfer der zeitgenössischen estnischen Musik. Seit 1991 ist es nicht mehr das einzige Festival dieser Art, aber das ist auch gut so, denn mit dem im Zweijahres-Rhythmus im Herbst stattfindenden „Nyyd“-Festival/(„nüüd“ bedeutet auf estnisch „jetzt“) öffnete sich eine Bühne sowohl für die zeitgenössische estnische, als auch die internationale zeitgenössische Musik (obwohl auch schon zuvor etliche Konzertreihen oder Festivals auch mit Ausrichtung auf zeitgenössische Musik existierten) und die Estnischen Musiktage konnten um so besser ein Forum für die jungen Tonschöpfer werden. Seit 1999 gesellt sich nun auch das „Sügisfestival“/“Herbstfestival“ zu dieser für Estland stolzen Zahl an Festivals für hauptsächlich zeitgenössische Musik, so dass die Komponisten noch mehr Möglichkeiten erhalten, ihre Werke aufgeführt erleben zu können.

Die Estnischen Musiktage sahen im Laufe der beiden Jahrzehnte viele Uraufführungen und durch sie verdiente sich so mancher junge Komponist seine ersten Sporen, denen auch auf internationalem Parkett so manche Erfolge folgten. Zu nennen seien hier unter vielen anderen, und neben schon seit den 1960er Jahren etablierten Künstlern wie Eino Tamberg (*1930, erste Sinfonie, 1978 und Violinkonzert, 1981) oder Veljo Tormis (*1930, viele Chorwerke), die Generation von Komponisten, die gerade heute im besten Alter stand und von denen doch schon so viele von dieser Welt gegangen sind. Zu dieser Generation gehörten Kuldar Sink (1942-1995), Lepo Sumera (1950-2000), Raimo Kangro (1949-2001), Mati Kuulberg (1947-2001), Tarmo Lepik (1946-2001), gehören aber auch Erkki-Sven Tüür (*1959), Alo P?ldmäe (*1945) oder Urmas Sisask (*1960). Lepo Sumeras erste Sinfonie (1981) erlebte hier ihre Uraufführung und wurde zu einem der meistgespieltesten Werke estnischer Musik. Auch zu den diesjährigen Musiktagen erklingt sie im Rahmen des Lepo-Sumera Kompositionswettbewerbs wieder. Mit seinem siebenteiligen Zyklus „Architektonika“ ist Erkki-Sven Tüür weltbekannt geworden, die Uraufführungen der ersten Teile fanden seit 1984 zu den Estnischen Musiktagen statt. Heute muss man in die großen Konzert- und Opernhäuser der ganzen Welt reisen, um eine Uraufführung Tüürscher Werke erleben zu können.

Die Estnischen Musiktage 2003 bieten mit der Finalrunde des internationalen Lepo-Sumera Kompositionswettbewerbs sowohl internationale Uraufführungen als auch z.B. mit dem schwedischen Modernisten Anders Hillborg (Celestical Mechanics, 1983-1985) international bekannte zeitgenössische Musik. Auch durch einen Vortragsnachmittag zum Leben und Werk Lepo Sumeras (Organisation durch das Theater- und Musikmuseum (TMM): Leiter der Musikabteilung des TMM und Komponist Alo P?ldmäe, Vorträge: Merike Vaitmaa, Gerhard Lock) wird dem Namensgeber des Wettbewerbs gedacht. Aber die diesjährigen Musiktage bieten auch Raum für solch interessante und nur Estland-spezifischen Ereignisse wie Konzerte mit neuer Volksmusik und für unterschiedliche Kannel-Instrumente oder das Mamutkonzert in der Estnischen Musikakademie. Auch neue Musik für Orgel oder ein gemeinsames Konzert von Vox Clamantis (Ensemble für gregorianische Musik unter Jaan-Eik Tulve) und dem Ensemble Voces Musicales oder das Konzert des NYYD-Ensembles für zeitgenössische Musik unter Olari Elts (Werke von Mari Vihmand, Alo Pöldmäe, Igor Garshnek, Toivo Tulev und Klas Torstensson) sind Anziehungspunkte des diesjährigen Festivals. Zum Abschlusskonzert mit dem Estnischen Staatlichen Sinfonieorchester (ERSO) im Konzertsaal „Estonia“ mit Werken von Lepo Sumera, Eino Tamberg, Galina Grigorjeva (*1962) und Timo Steiner (*1976) erklingt sowohl schon etablierte Musik (Sumeras „In memoriam“, 1972, für seinen Lehrer Heino Eller (1887-1970), Tambergs erstes Trompetenkonzert aus dem gleichen Jahr) als auch zwei Uraufführungen (Grigorjeva, „Concertino“ für Altsaxophon und Orchester, 1992 und Steiners „Sümfoonia“) und bieten somit einen Querschnitt durch die estnische Musik der vergangenen dreißig Jahre.

4. bis 11. April 2003, Eesti Muusika Päevad/Estnische Musiktage (EMP) I,
Tallinn, Eesti/Estland

Eröffnungskonzert

am 4. April 2003

„Aastaajad/Jahreszeiten“ Zeitgenössische Tanzmusik

Mirjam Tally (*1976), Helena Tulve (*1972), Raimo Kangro (1949-2001), Jaan Rääts (*1932) (Phonogramme, Instrumentalmusik, Remixing)

DJs: Raul Saaremets und Sten Saluveer, Choreographie: Kristina Paškevicius, Tänzer: Päär Pärenson, Helen Reitsnik, Mart Kangro, Kei Kvarnstrom, Video: Ronald Kozak,
Lichtkunst: Valdar-Mikk Kuusk

Meelis Vind (Bassklarinette), Robert Jürjendal (elektrische Gitarre), Madis Metsamart (Schlagwerk), Mirjam Tally (Elektronik)

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