Überwältigende Klangmassen sind siegreich

Vom vierten bis zum elften April 2003 findet das Eesti Muusika Päevad/Estnische Musiktage mit dem Finalkonzert des Internationalen Lepo-Sumera-Kompositionswettbewerbs statt

Wenn ein internationaler Kompositionswettbewerb wie dieser in der Finalrunde solch unterschiedliche musikalische Handschriften präsentiert, so kann man gewiss sein, dass die Qual der Wahl für die Jury sehr groß gewesen sein muss. Genau dies bestätigt zur Siegerehrung dann auch der weltbekannte Komponist, ehemalige Schüler und Freund Lepo Sumeras sowie Vorsitzende der Lepo-Sumera-Gesellschaft Erkki-Sven Tüür. Über 90 Partituren aus fast 20 Ländern aus der ganzen Welt wurden eingeschickt und überraschten die Organisatoren mit diesem Echo. Nicht nur aus Polen, Litauen, Ungarn, Finnland, Spanien, England, Holland, Tschechien, Deutschland, Italien, Frankreich, Russland oder Aserbaidschan, sondern auch aus Neuseeland, den USA, Kanada, Argentinien, Australien, China, Japan trafen Teilnehmerwerke ein.

Der Tod des weltweit gespielten estnischen Komponisten Lepo Sumera im Jahre 2000 war ein großer Schock für die Musikwelt – auch über die Grenzen Estlands hinaus. Der Verlust nicht nur eines Komponisten, sondern auch eines aktiven Botschafter seines Landes, eines Lehrers und humorvollen Menschen löste tiefe Trauer aus, aus der dann in kürzester Zeit intensive Tätigkeit, Planung und die Gründung der Lepo-Sumera-Gesellschaft hervorgingen. Diese koordiniert alles, was mit dem Nachlass Sumeras zusammenhängt und als bisher größte Aktivität wurde der Kompositionswettbewerb zu Ehren Lepo Sumeras ins Leben gerufen.

Der heutige Abend als Finalrunde ließ auf einiges hoffen und die Hoffnungen wurden nicht enttäuscht. Gänzlich unterschiedliche Klangwelten und Kompositionsweisen treffen hier zusammen, geben einen Querschnitt durch die aktuelle zeitgenössische Musik. Neben betont modernistischen Anschauungen und fein strukturierten Klangwelten, findet sich auch bewusst anschauliche, ja fast programmhafte Musik sowie unglaublich kraftvolle Klangmassen, die keinen Augenblick zum Atmen freilassen.

Als nach der Pause dann die erste Sinfonie (1981) des Namensgebers des Wettbewerbs erklingt, öffnet sich eine faszinierende Klangwelt, die den Komponisten Lepo Sumera als einen Meister der zeitgenössischen Sinfonik ausweist. Die Vereinigung von meditativer Welt, in der die Zeit fast stehenbleibt, und plötzlichem Einfall weltlichen Treibens und Trubels (hier erreicht durch Verwendung eigener Filmmusikausschnitte) sind ein wesentliches Merkmal der Musik Sumeras. Meditation und dramatische Gefühlswelt bilden die äußersten Extreme dieser Musik, eingeschmolzen in eine eigenständige sinfonische Form. „Aufgabe eines Komponisten ist es, ein beliebiges Motiv, und sei es ein ganz einfaches la si do re auf solche Weise zu notieren, dass der Hörer nicht ernüchtert feststellt: ah – la si do re…, sondern mit Erstaunen hört: oh – la si do re…! Auf diese Weise durch das ganze Werk hindurch.“ Lepo Sumera, 1985)

Dieses Zitat stammt vom Namensgeber des Kompositionswettbewerbs und bildet die Basis, auf der an dieser Stelle erläuternd über Kompositionstechnik, Klanggestaltung und Konsequenz in kompositorischer Arbeit reflektiert wird, die Charakterisierung der Werke der fünf Wettbewerbsteilnehmer somit kurz vorbereitend.

Da es in unserer heutigen Zeit kein Problem mehr ist, egal welches Material zu nehmen und sein Stück damit zu komponieren (prägend ist manchmal auch die Kompositionsschule oder die musikalische Umwelt, aus der ein Komponist stammt), möchte ich hier nur auf ein Kriterium einer möglichen Bewertung von Kompositionen verweisen. Es ist die Konsequenz, mit der man sein Werk aufbaut und unter Konsequenz meint der Rezensent nicht nur eine aus modernistischem Denken stammende Progressivität und absolute Kontrolle bis ins letzte Element hinein, sondern auch postmoderne Collage-Möglichkeiten oder das Darstellen von Klang- oder Gefühlszuständen bzw. -entwicklungen. Auch ein lange wiederholter „einfacher“ gebrochener Akkord kann konsequent sein, wenn er beim Hörer das Gefühl erweckt, dass gerade dieser Akkord in nur dieser Orchesterfarbenbehandlung und genau dieser Länge dem Komponisten im Augenblick ganz wichtig war. Dabei spielt nicht nur das Formgefühl eine Rolle, sondern auch ein Gefühl für Klangfarben und deren Möglichkeitswelt. Wichtig ist, dass dem Komponisten bewusst war, was er niederschrieb, auch wenn er kein allgemein bekanntes Kompositionssystem verwendete. Dies kann später als Konsequenz wahrgenommen werden, auf die sich der Rezensent bezieht und die auch ganz deutlich im obigen Ausspruch Lepo Sumeras zu spüren ist.

Im Folgenden werden die Werke der fünf Finalteilnehmer aus kompositionstechnischer Sicht näher charakterisiert, um einen Einblick in die Vielfältigkeit zeitgenössischen Komponierens zu geben.

In Naomi Sekiyas „Undulation“ ist zu Beginn der Rhythmus ein wesentliches Element. Viele verschiedene Schlaginstrumente und Streicher-Pizzicati entwickeln eine zum Teil an Pendereckis Mittelteil des „Threnos“ erinnernde, fluktuierende Klang- und Rhythmusstruktur. Ein weiterer Abschnitt bringt dann farbige Klänge, die durch ihren Reichtum an Sekunden zu einer lebendigen Klangfläche werden. Aber auch kurze Melodiefloskeln und abwärtsströmende Kaskaden entwickeln eine wunderbare, fein strukturierte Klangwelt. Am Schluss ist wieder der Rhythmus wichtigstes Element, auch hier wieder viele Schlaginstrumente und Paukendonner. Den Gegensatz zwischen Rhythmusstrukturen, Melodiefloskeln und großen Akkorden, die gleich farbigen Säulen sich im Klangraum aufbauen, kann die Komponistin auf konsequente Weise zu einer gelungenen Synthese entwickeln.Nicolas Gilbert bezeichnet im Hinblick auf das verwendete Material sein Stück „Tchal Kouyrouk et la septime face du cube“ (Musique sérielle naive) als sehr einfach aufgebautes Werk. Sieben unterschiedliche Materiale sollen zunächst nacheinander, später miteinander verschmolzen werden. In der Coda erscheint dann, von Tuba solo vorgetragen, eine sogenannte magische Reihe, mit der alles auch endet. Gilbert folgt modernistischem Denken und hat durchaus den Mut, die, wie er selbst sagt, „Reihen aus dem Musikgeschichtsbuch“ herausnehmen und mit ihnen zu arbeiten, obwohl ihre Zeit offensichtlich vorbei sein scheint.
Wie jedoch ist das akustische Ergebnis der Musik Gilberts, die im Titel auf das Pferd des kirgisischen Helden Er-Toshtuki anspielt?

Zunächst beginnt das Stück mit einem langen hohen Ton in den Violinen, dann kommen Glocken hinzu. Alles ist mehr kammermusikalisch gehalten. Es klingt viel zu schön, um rein seriell komponiert zu sein. Die Instrumentation ist abwechslungsreich gestaltet, aber weder der kirgisische Held mit seinem Pferd, noch das lang und spannend beschriebene einfache Material sind bewusst assoziierbar. Auch fehlt eine gewisse Konsequenz in der Klanggestaltung, zumal durch die Stützung auf Reihenstrukturen dem Komponisten die Hände wie gefesselt erscheinen. Ein potentiell vorhandener und hoffnungsvoller Aufbau von Klangstrukturen wird durch die auf dem Papier durchaus nachvollziehbare und sicherlich mathematisch motivierte Reihen-Organisation leider behindert.

Auch bei Evrim Demirels „Evolution“ spielen die Schlaginstrumente eine interessante Rolle. Durch den Zusammenklang von Pauken und Tam-Tam entsteht eine geheimnisvolle Atmosphäre. Der Beginn ist fragmentarischer, als die Musik seiner Kollegen. In weiteren Abschnitten entwickelt der Komponist eine harmonischere Klangwelt, bei der besonders das „fade in“ der Klänge fasziniert. Sie scheinen wie aus dem Nichts zu kommen, aber es gibt kein „fade out“. Später wird das Klangbild chaotischer, farbiger – häufig jedoch überfarbig. Die von Demirel im Programmheft angesprochene Dramaturgie des Stückes (Erschaffung, Entwicklung, Sieg) bezieht sich für ihn auf den Titel seines Werkes „Evolution“, doch es scheint, dass er die Struktur des Stückes mit seinen Worten besser erklären kann, als es das Klangergebnis dem Hörer präsentiert. Schade – hier fehlt es an Konsequenz in der Arbeit mit dem Klangmaterial.

Der als Lokalmatador gefeierte Tõnu Kõrvits ist ein Schlitzohr. Das Wichtigste ist ihm, statt eines langen Programmhefttextes, das Gedicht „Eldorado“ von Edgar Allan Poe, welches er zu Beginn rezitieren lässt und nach dem er seine Musik benannt hat. Damit bereitet er die Atmosphäre für ein außergewöhnliches Orchesterwerk vor, das dem Hörer ein lebendiges Bild des nach dem Land des Glückes suchenden Ritters Gaily Bedight vor Augen zaubert. Die Musik ist sehr kammermusikalisch gehalten und bewegt sich auf dem Grat zwischen zauberhafter Schönheit und manchmal auftretender Banalität. Zu Beginn entwickeln das Becken und etliche Schlaginstrumente eine filmmusikhafte Klangwelt. Die wechselnden Soloinstrumente bilden den nach dem „Eldorado“ suchenden Reiter nach. Wenn zu Beginn die Harmonik noch sehr klar ist und zum ersten Mal Assoziationen an die estnische Musik und Lepo Sumera im Speziellen hervorruft, bleibt sie später recht einfach, ungeschliffen. Durch entsprechende Instrumente und Tonleitern (z.B. nah-östliche Tonleitern mit übermäßigen Sekunden) wird ein Hauch von Exotik hervorgerufen, der recht spannend klingt, jedoch nichts umwerfend Überraschendes ist. Aus kompositionstechnischer Sicht scheint dieses Werk nicht mit modernistischen Konstruktionen oder fein strukturierten Klanggebäuden mithalten zu können, aber es muss es auch gar nicht, denn der Klang und die musikalische Erzählung sind hier wichtiger. Das Werk hat großes klangliches Potential und erreicht den Zuhörer durch seine bildliche Kraft.

Zum Abschluss des ersten Teils des Konzerts geht Alberto Collas „Starlights“ ins Rennen und Colla entwickelt eine spannende Klangwelt. Er baut eine konsequente „Tonalität“ auf Akkordbasis auf und weiß (wie auch seine Kollegen) mit Bläsertechniken (z.B. Überblaseffekte) umzugehen. Die Musik stürmt dahin, sie lässt kaum Zeit zum Atmen, man wird förmlich überrollt und mitgerissen in den Strudel der leuchtenden Sternenwelt. Durchaus getroffen ist der Titel des Werkes, Gustav Holsts Zyklus „Planeten“ erscheint kurz vor dem inneren Auge, aber das Klangbild Collas ist völlig eigenständig. Man denkt sofort: dieses Werk könnte den Wettbewerb für sich entscheiden. Interessanter weise assoziiert die Konsequenz der Akkordbehandlung Collas von allen Kollegen am meisten mit Sumeras absoluter, akkordisch basierter Konsequenz.

Dann aber wird das Werk in die Länge gezogen – man beginnt sich zu fragen, warum der Komponist nicht zu einem Ende finden kann. Das Klangbild wird zunehmend banaler – schade. Von gelungener Filmmusik (auch ein Thema aus dem Film „Starwars“ wird verarbeitet) bis zur Effekthascherei ist der Grat sehr schmal. Allerdings wird dem Rezensenten später beim Betrachten der Partitur und mit dem Wissen um die große Zahl der nach Sternen benannten Unterabschnitte klar, warum das Stück nicht enden wollte, da die gesamte Dramaturgie sich nach den Charakteren der Sternbilder richtet. Doch das wurde dem Hörer der Uraufführung verschwiegen.

Für alle uraufgeführten Werke gilt, dass man sie ein zweites oder drittes Mal hören sollte; dazu ohne den Anspruch eines, auf welche Weise auch immer, bewertenden Ohres und Auges. Dann erschließt sich so manche musikalische Struktur dem Ohr aufs Neue und erscheint in ganz anderem Lichte. Sie haben alle das Potential, ins Konzertrepertoire aufgenommen zu werden.
Das Ergebnis der Jury-Entscheidung sieht wie folgt aus:

1. Preis: Alberto Colla (*1968, Italien) – „Starlights“
2. Preis: Naomi Sekiya (*1969, Japan) – „Undulation“
3. Preis und Sonderpreis als erfolgreichster estnischer Teilnehmer: Tõnu Kõrvits (*1969, Estland) – „Eldorado“

Ehrendiplome:
Nicolas Gilbert (*1979, Kanada) – „Tchal Kouyrouk et la septieme face du cube“, Musique sérielle naéve
Evrim Demirel (*1977, Türkei) – „Evolution“

Alle Finalteilnehmer waren im Konzert dabei und konnten die Uraufführungen ihrer Werke live erleben. Das Ergebnis wurde nach einem Punktesystem knapp für Alberto Colla entschieden.
Tõnu Kõrvits Musik ist sehr fragil und schön, sie baut auf narrativen Elementen auf und ist dadurch eine eigene Klangwelt. Naomi Sekiyas Werk hatte durchaus das Potential zum Sieg, aber wenn der stürmende Italiener Colla mit seinen Klanggewalten alles überrollt, wurde schon so manch andere europäische Jury z.B. in Italien, Deutschland, Norwegen oder Frankreich (Paris) von der Kraft seiner Musik überzeugt. Auch ist Collas Partiturbild durch seine strukturelle Klarheit (in der Notenschrift entstehen klare optische Strukturen) in Wettbewerbssituationen sicher auch ein Aspekt für eine positive Beurteilung.

Als man nach dem Konzert dann ins Freie tritt, tobt draußen ein gewaltiger Schneesturm. Man kann kaum ein paar Meter weit schauen und der Schnee war inzwischen bis auf fast einen Drittel Meter angewachsen. Die Gewaltigkeit und Großartigkeit des Konzerterlebnisses findet ihre Fortsetzung in der Naturgewalt des April-Schneesturms.

4. bis 11. April 2003, Eesti Muusika Päevad/Estnische Musiktage (EMP) II,
Tallinn, Eesti/Estland

(vgl. auch das Eröffnungskonzert)Finalkonzert des Internationalen Lepo-Sumera-Kompositionswettbewerbs

5. April 2003, Konzertsaal „Estonia“Naomi Sekiya (*1969, Japan) – „Undulation“

Nicolas Gilbert (*1979, Kanada) – „Tchal Kouyrouk et la septieme face du cube“, Musique sérielle na?ve
Evrim Demirel (*1977, Türkei) – „Evolution“
Tõnu Kõrvits (*1969, Estland) – „Eldorado“
Alberto Colla (*1968, Italien) – „Starlights“Lepo Sumera (1950-2000) – Sinfonie Nr.1 (1981)

Eesti Riiklik Sümfooniaorkester (ERSO, Estnisches Staatliches Sinfonieorchester)
Dirigent: Olari Elts

Organisation:



Lepo Sumera Ühing/Lepo-Sumera-Gesellschaft

(www.sumera.kul.ee)
Festival „Eesti Muusika Päevad“/“Estnische Musiktage“

(www.emic.kul.ee)
Eesti Heliloojate Liit/Estnischer Komponistenverband
In Zusammenarbeit mit:

Eesti Kontsert

(www.concert.ee),

ERSO

(www.erso.ee)

und Eesti Muusikaakadeemia

(www.ema.edu.ee)

Wettbewerbsjury:
Anders Hilborg (Schweden)
Roman Ledenjov (Russland)
Eino Tamberg (Estland)
Erkki-Sven Tüür (Estland) – Ersatz für Peter Jan Wagenmans (Holland)
Olari Elts (Estland)

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