Effektvolle Dramatik und Überwindung der Traurigkeit

Bachs Johannes-Passion mit dem Thomanerchor unter Leitung Gotthold Schwarz‘ in der Thomaskirche

Ein Wogen entsteht aus der mühsam erworbenen Stille der Thomaskirche, sogleich jäh zerrissen von schmerzhaften Holzbläser-Dissonanzen, bevor sich der Strom in den Streichern immer mehr verbreitert und alles in einem dreifachen, absteigenden „Herr“ fortreißt. Daraus entfaltet sich ein Lobgesang, der die „größte Niedrigkeit“ wie die Herrlichkeit Gottes gleichermaßen erlebbar macht und die darin liegende Spannung als grundlegendes Charakteristikum der Passionsgeschichte thematisiert.

Daß diesmal alles noch ein bisschen unruhiger, drängender, spannungsgeladener klingt als sonst, liegt nicht nur am sehr zügigen (fast überzogenen) Tempo, mit dem Gotthold Schwarz, Thomanerchor und Gewandhausorchester diesen Eingangschor zur Bach’schen Johannes-Passion angehen. Überhaupt verlegt sich der als Vertretung des erkrankten Thomaskantor Biller agierende Schwarz zunächst vornehmlich aufs Dramatische, gestaltet das Karfreitagsgeschehen äußerst plastisch und treibt die Handlung zügig voran.

Vor allem die Turbae-Chöre geraten außerordentlich packend und mitreißend, beispielsweise die Darstellung aufgeputschter Volksmassen in „Kreuzige!“ und „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“ oder die Verhöhnung Jesu in „Sei gegrüßet, Judenkönig“. Während die Effekte ihre Wirkung tun und die Handlung ihren Lauf nimmt, mischen sich aber auch einige Trübungen ins Bild der Aufführung. Viele Details werden nicht deutlich genug ausmusiziert, einige Chorpassagen wirken gehetzt und verlieren an Prägnanz, ein ums andere Mal klappert es im Orchester beträchtlich und die Durchhörbarkeit bleibt auf der Strecke.

Doch erscheinen, insgesamt gesehen, solche Dinge im Rahmen des Erträglichen und tun der Wirkung der Aufführung nur wenig Abbruch. Zumal sich Gotthold Schwarz auf einen klanglich gut aufgelegten Thomanerchor und ein transparent zu Werke gehendes Gewandhauorchester verlassen kann. Das permanente Vibrato auf Rezitativ-Schlüsse im Continuo bleibt dennoch gewöhnungsbedürftig und empfiehlt sich nicht zur Nachahmung. Ein großer Pluspunkt sind an diesem Abend die Choräle. Hier steht die Zeit still und das dramatische Geschehen kommt zur Ruhe. Mit herrlicher Leuchtkraft und großer innerer Ruhe entfalten diese schlichten Sätze eine Klarheit und Pracht, die unter die Haut geht.

Die Solisten bieten sehr Unterschiedliches an. Während ein wunderbar singender Christoph Genz (einen ausdrucksstärkeren und wandlungsfähigeren Evangelisten kann man sich gar nicht wünschen!) bereits allein für den Eintritt entlohnt und auch die Arien unglaublich differenziert und inhaltlich tief auslotend singt, wissen die beiden Bassisten Reinhard Hagen (Jesus) und Michael Volle (Arien) mit warmem, vollem Timbre und Gestaltungssicherheit zu gefallen. Dagegen bleibt Altus Martin Wölfel zunächst sehr blass und Ingrid Schmithüsen leider eine Enttäuschung. Intonationsunsicher und ohne Strahlkraft singt sie sich durch die Arie „Ich folge dir gleichfalls“, wo ihr Konzertmeister Christian Funke mit atmender Phrasierung und geschmackvollen Verzierungen komplett die Show stiehlt. Und auch in der zweiten Arie „Zerfließe, mein Herze“, mit der sie auf das klagend-fragende Tenor-Arioso „Mein Herz“ antwortet, hat sie dem bereits Gesagten wenig hinzuzufügen, währenddessen es Martin Wölfel jetzt entgegen kommt, daß Gotthold Schwarz quasi einen dritten, letzten Teil definiert und ab dem Choral „In meines Herzens Grunde“ der Passion einen mehr verweilenden, betrachtenden Charakter zubilligt. Den dadurch entstehenden Raum für Details und Nuancen beginnt Wölfel zumindest im Adagio-Teil der bewegenden Arie „Es ist vollbracht“ zu nutzen. Daß dieser zentrale Moment der gesamten Passion aber zweimal durch den leider auch in der Thomaskirche gegenwärtigen Handy-Terror attackiert wird, ist ärgerlich und unbegreiflich zugleich!

Doch schließlich findet Gotthold Schwarz mit Thomanern und Gewandhausorchester zum sanften Frieden des Schlusschores („Ruht wohl“) und bringt „auch mich zur Ruh“, bevor einer der schönsten Bach’schen Choräle weit über Karfreitag und Ostern hinaus weist und alle Trauer, alles Leid und allen Schmerz überwindet. Dies den Hörern in der vollen Thomaskirche als eigentliches Fazit der Passionsgeschichte fühlbar nahe gebracht zu haben, ist das Verdienst dieser Aufführung.

Johann Sebastian Bach (1685-1750):
Johannes-Passion BWV 245
(Erste Fassung, 1724)

Thomanerchor
Gewandhausorchester

Ingrid Schmithüsen, Sopran
Martin Wölfel, Altus
Christoph Genz, Tenor (Evangelist und Arien)
Reinhard Hagen, Bass (Jesus)
Michael Volle, Bass (Arien)

Gotthold Schwarz, Dirigent

Gründonnerstag, 17. April 2004, Thomaskirche

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