Was ist bahnbrechender als bahnbrechend? Russian Ark! (Friederike Haupt)

Russian Ark, 06. Mai 2003, Schaubühne Lindenfels
Und es hat Zoom gemacht
Verliebt in die Kamera: Der Film Russian Ark

„Bahnbrechend“ ist ein Ausdruck, den man meistens vermeiden sollte: Allzu oft wurde er schon missbraucht, um die rasante Karriere von drittklassigen Promis, eine weitere unbedeutende Erfindung oder auch den Überraschungserfolg einer Zweitligamannschaft aufzuwerten. Inzwischen kann man in den meisten Zusammenhängen „bahnbrechend“ mit „ganz nett“ übersetzen. Russian Ark aber ist ein Film, der es einem möglich macht, ihn bahnbrechend zu nennen, ohne rot werden und sich rechtfertigen zu müssen. Er hat etwas an sich, das ihn, selbst wenn er – was nicht der Fall ist – ein grottenschlechter Streifen wäre, unsterblich machte:

Was der Zuschauer zu sehen bekommt, ist eine einzige, ungeschnittene, 90-minütige Sequenz; kein einziges Mal setzt Kameramann Tilmann Büttner (Steadycam auch bei „Lola rennt“) während der am 23. Dezember 2001 abgewickelten Dreharbeiten seine 33 Kilogramm schwere Sony-Kamera ab, und unter der Regie von Alexander Sokurov ist dadurch eine Liebesgeschichte zwischen Technik und Geschichte entstanden, die ihresgleichen sucht. Denn natürlich erfüllt diese Art des Filmens hier einen Zweck im Bezug auf das Gefilmte.Russian Ark ist ein Film über die prachtvolle Eremitage (u.a. ehemaliger Zarenpalast) in St. Petersburg. Interessanterweise werden die Zuschauer im Kino Zeugen einer Zeitreise durch 300 Jahre, und das geht so:

Ein Russe aus heutiger Zeit (er selbst ist im Film nur als Stimme aus dem Off wahrnehmbar – was er jedoch sieht, zeigt die Kamera) findet sich überrascht in der Eremitage des 18. Jahrhunderts wieder; dort trifft er auf einen leicht zynischen Adeligen aus dem 19. Jahrhundert. Die beiden durchstreifen zusammen die Paläste und werden Betrachter unterschiedlichster Szenarien. Ob Katharina die Große, Peter der Große, Ballgesellschaften in pompösen Kostümen oder Museumsbesucher in Freizeitkleidung – die Kamera fängt sie alle mit einer Vielseitigkeit der Perspektiven ein, die verblüfft. Wie sie nahezu schwebend in einer Menschenmenge eine Treppe hinuntergleitet oder mit Dutzenden von Paaren auf der Tanzfläche herumwirbelt, ganz nah Details von Rembrandt-Bildern oder als wunderschönes letztes Bild das vernebelte Meer zeigt – das ist schon großes Kino.

Dass zwei Besucher die Schaubühne Lindenfels noch während des Films verlassen, lässt sich dann auch nur mit akuter Müdigkeit oder einem auf dem Herd vergessenen Topf erklären; am Film kann es nicht gelegen haben (es sei denn, sie hassten opulente Bilder, historische Szenarien und die Vorstellung, einen Film zu sehen, der zwei Jahre vorbereitet und in wenigen Stunden gedreht wurde).Russian Ark ist mehr als ein Experiment. Die Welt nennt das Werk „brillant“, der Spiegel schreibt von einem „Highlight“, für die New York Times ist er schlicht „ein Liebesbrief an die Vergangenheit“ und im Herald Tribune liest man: „Ein Film wie ein Traum!“ Aber die Zeitungen können viel schreiben über einen Film, dessen Kapital ganz und gar auf visueller Ebene liegt – man muss ihn gesehen haben, um ihn verstehen zu können. Eins ist er aber sicher: Bahnbrechend.(Friederike Haupt)

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