Wie ein nackter Polizist

Musica Nova präsentiert Musik und Gespräche von und mit Helmut Lachenmann

Ein Mann betritt die Bühne, sein Haar ist ergraut, und er ist auch ganz in grau gekleidet: in mausgrauem Jackett, steingrauer Hose und einem grauen Rollkragenpullover. Es ist der bekannte deutsche Komponist Helmut Lachenmann. Er spielt eine seiner Kompositionen für Klavier; die Wiegenmusik aus den frühen siebziger Jahren. Die verwendete Tonsprache scheint sich des bekannten Fundus‘ moderner Musik zu bedienen, das Stück klingt lyrisch und zaghaft, seinem Titel entsprechend. Das Stück Guero hingegen benutzt das Klavier als Sambagurke, indem das Klicken beim Entlanggleiten der Finger auf der Tastatur zum alleinigen Element des Stücks erhoben wird. Im anschließenden Gespräch zwischen Steffen Schleiermacher und Lachenmann erfährt man, das Stück sei eine Etüde, die dem Pianisten seiner Funktion und seines Könnens beraube. Es entstehe ein ähnlicher Effekt, als wenn man einen Polizisten entkleide und ohne Uniform zurückließe. In dem Gespräch erfährt man einiges über die musikalischen Anschauungen Lachenmanns. Er redet gern von Musik, die „poetisch“ ist, die Erwartungshaltungen durchkreuzt und sich fernab schon bekannter Muster eigene Lösungen sucht; Musik, die sich nur aus den absolut notwendigen Elementen zusammensetzt, kein unnötiges Material enthält.

Die drei für dieses Programm von Lachenmann ausgesuchten Klavierwerke anderer Komponisten stammen von Vertretern aus seiner Nachfolgergeneration. Ihre Musik entspricht in Lachenmanns Augen dem Ideal einer wirklich neuen, individuellen und puristischen Musik; und sie haben es deshalb nicht einfach, in der Musikwelt Gehör zu finden. Alle folgenden Werke werden von der Pianistin Yukiko Sugawara gespielt. Die Nacht Klänge von Toshio Hosokawa sind ein undurchdringliches Gebilde bizarrer Klänge und Tonfolgen. Die Trois Canons von Brice Pauset hingegen sind durchsichtig und streng geformte Stücke. Die Konzentration auf das Wesentliche wird bei diesem Werk unmittelbar deutlich. Ungleich vielfältiger und formenreicher ist dann wieder das Klavierwerk Der religiöse Algorithmus von Manuel Hidalgo. Große Spannungsbögen und eine Tonsprache, die sich stellenweise tonalem Kitsch annähert, um dann wieder in der geheimnisvollen Unbestimmtheit freien Komponierens unterzugehen. Yukiko Sugawara spielt alle drei Werke mit größter Konzentration und innerer Hingabe, so dass man überzeugt ist, einer unmittelbaren und authentischen Interpretation beizuwohnen.

Vor dem letzten Werk, der Serynade für Klavier von Helmut Lachenmann, lässt sich der Komponist noch einmal ein wenig ausführlicher über seine Gedanken aus. Wichtig sei für ihn, dass Musik zwar ernst sein müsse, aber in der Regel dennoch „heiter“. Humor dagegen habe in der Musik nichts verloren, aber ein heiterer Ausdruck sei vielen seiner Werke eigen. Der Titel der Serynade verweise auf einen solchen Gehalt, wobei das „Y“ im Titel für den Vornamen seiner Frau Yukiko Sugawara stehe, der dieses Werk gewidmet sei. Es handelt sich bei dieser Klavierkomposition um ein größer angelegtes Werk von etwa einer halben Stunde Dauer. Ihm liegen bestimmte Griffe zugrunde, die sich aller zehn Finger bedienen und auf der Klaviatur verschoben werden. Was innerhalb der Komposition musikalisch passiert, ist schwer zu beschreiben. Die Serynade enthält musikalisch so vieles und bildet zugleich eine musikalische Einheit. Die ganze Vielfalt der eigensinnigen Musiksprache Lachenmanns scheint in ihr enthalten zu sein. In der Interpretation Sugawaras zieht diese Komposition den Hörer in den Bann einer Musik, die den hohen Rang des Komponisten Lachenmann belegt. Insgesamt beweist der Abend, dass auch heute noch sehr hochrangige Werke für das Klavier entstehen. Und er zeigt, dass man sich auch als Hörer manchmal ein wenig fühlt wie ein nackter Polizist; nämlich immer dann, wenn die Musik nichts Vertrautes mehr an sich zu haben scheint und die eigene Hörgewohnheit ins Leere greift.

musica nova: Helmut Lachenmann – Musik und Gespräche

Helmut Lachenmann – Wiegenmusik (1963), Guero (1970), Serynade (1998/2000)
Toshio Hosokawa – Nacht Klänge (1994/96)
Brice Pauset – Trois Canons (1989)
Manuel Hidalgo – Der religiöse Algorithmus (1986)

Yukiko Sugawara, Helmut Lachenmann – Klavier

7. Mai 2003, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

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