Lesung und Podiumsdiskussion mit Tim Staffel (Roland Leithäuser)

21.5.2003, Schaubühne Lindenfels, Leipzig

Lesung und Podiumsdiskussion mit Tim Staffel in der Reihe ?WORTLAUT ? Junge deutschsprachige Literatur in der Schaubühne?
Moderation: Tobias Hülswitt


Vom Nutzen und Elend nachbarschaftlicher Beziehungen in der Agendarepublik

Die Lesung beginnt mit einem schlechten Witz. Als mit fünfzehnminütiger Verspätung der Berliner Autor Tim Staffel durch den Publikumseingang das Podium der Lesung betritt, stellt ihm Moderator und Kollege Tobias Hülswitt, Absolvent des DLL und literarische Nachwuchshoffnung (s. Besprechung seines Romans ?Saga? im Leipzig Almanach), diensteifrig ein Glas Mineralwasser an den Platz und richtet folgende Worte an Staffel: ?Du mußt jetzt >>Danke, Seven<< sagen, wie in der Harald Schmidt-Show.? Die spärlich besetzte Bühne im Saal der Schaubühne (knapp dreißig Zuhörer mögen es wohl sein) hält für einen Moment den Atem an ob dieser Peinlichkeit. Ein Mann im Publikum, der nicht namentlich genannt sein möchte, denkt in diesem Augenblick, daß er eventuell doch zu Hause vor dem Fernseher besser aufgehoben gewesen wäre, schließlich findet zeitgleich noch das UEFA-Cup Finale statt, quasi ein Pflichttermin für alle bekennenden Fußballfans. Doch dann wird in der kommenden Stunde das runde Leder beinahe vergessen, um sich stattdessen an den literarischen Steilpässen des Tim Staffel zu delektieren.

Seit Staffels Romandebüt mit ?Terrordrom? (1998) erfreut sich der vormalige Dramaturg und Stückeschreiber, der einstmals bei Anrzej Wirth in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studierte, einer zunehmend wachsenden Anhängerschaft, die seine Werke zu Kultschriften erklärt und in ihrem Autor den Apologeten der verkommenden Berliner Republik erkennt. ?Terrordrom?, der de facto als literarischer Wegbereiter der späteren Reality-TV-Ereignisse von ?Big Brother? bis ?Deutschland sucht den Superstar? gilt und wie sein zwei Jahre späterer Nachfolger ?Heimweh? (beide bei Volk & Welt erschienen) die Verrohung des Nachwuchses und den medialen Irrsinn der Erlebnisgesellschaft auf eindringliche und poetische Weise konstatierte, erhob den berufsjugendlichen Autor Staffel zu einem Outlaw des Literaturbetriebs, der die großen Bühnen meidet und im Underground stets eigene Süppchen kocht. So präsentiert er sich auch an diesem Abend in der Schaubühne in lässigen Hip-Hop-Klamotten, mit dichtem Ziegenbart und seinem neuen Prosawerk ?Rauhfaser? (Collection S. Fischer) im Gepäck.

?Rauhfaser? ist ein durchaus programmatisch gemeinter Titel. Staffels Roman erzählt von den Idiosynkrasien verschiedener junger Leute, die orientierungslos und im beinahe dauerhaften Zustand ?chemischer Überhöhung? in einer kleinen Stadt im Dunstkreis der Metropole Berlin ihr Dasein fristen. Der Autor liest aus dem ersten Teil des Romans, führt die handelnden (vielmehr nicht handelnden) Personen ein und beschreibt in dem für ihn typischen lakonischen, bisweilen stakkatohaften Tonfall deren Leben zwischen schnellem Sex, harten Drogen und den wenigen anderen Kicks, die ihr Alltag noch hergibt.

Da ist Paul, ein Lebenskünstler und Internetsüchtiger, der die Lebensversicherung seiner Eltern aufzehrt und über seine Rauhfasertapete meditiert. Es ist die Zeit der Kursk-Katastrophe, ein mediales Ereignis in Zeiten des Sommerlochs, das ihn aus seiner Lethargie wachrüttelt. Zwischenmenschliche Kontakte kommen bei Paul nicht häufig vor. Bei einem seiner ?Menschenversuche? lernt er den 19-jährigen David kennen und verliebt sich in ihn. David ist ein Herumtreiber, darüber hinaus bewohnt er die Wohnung von Paul gegenüber, der ihn fortan durchs Fenster beobachtet. Paul stellt David nach, in einer Diskothek kommt es unter dem Einfluß von Kokain zu ersten zaghaften Annäherungsversuchen. Doch David hat es auf Sonja abgesehen, eine Bekannte Pauls. Er ist an Gefühlen nicht interessiert, für ihn zählt ?nur der extreme Moment?. David und Sonja kommen zusammen, Paul bleibt außen vor. Wie blockiert schildert er seine Unfähigkeit, David seine Gefühle zu gestehen. Wechselnde Erzählperspektiven sorgen dafür, daß auch David zu Wort kommt. Paul interessiert ihn nicht, Sonja auch nicht, sie ?lieben? sich, ?es tropft aus ihr heraus?, sie zieht sich wieder an und geht, kein Abschied, keine Worte.

Soweit, so banal. Doch Staffel gelingt es immer wieder, die Hoffnungslosigkeit und Anonymität dieser Beziehungen sprachlich intensiv in Szene zu setzen. Die wechselnden Erzähler weisen ihn noch als Stückeschreiber aus, doch seine Prosa hat diese Herkunft bereits transzendiert. Man kann ihm nicht vorwerfen, er interessiere sich nicht für seine Charaktere, auch wenn sich deren Selbstreflexion in der Regel auf die orgiastischen Momente des Lebens reduziert.

Alles endet im Chaos. David arbeitet für einen Boulevardjournalisten als Fotograf, bezieht seine Erregung aus dem Anblick verstümmelter Unfallopfer, übergibt sich in die Nacht, Bilder von beinahe Godardscher Reinheit. Entgegen der Szenarien von ?Terrordrom? und ?Heimweh? scheint es in ?Rauhfaser? so, als räume der Autor seinen Protagonisten keine Fluchtmöglichkeiten mehr ein. Der Kleinstadt überdrüssig fahren sie nach Berlin, in ein größeres, unheimlicheres Moloch. Dort wird die In-Crowd verspottet, die Frage diskutiert, wie cool es noch sei, in Friedrichshain zu wohnen.

Doch weiter soll man selber lesen. Staffel, der rund eine dreiviertel Stunde lang deutlich und nuanciert aus dem neuen Roman vorgelesen hat, stellt sich den Fragen seines Moderators. Ein Mann im Publikum schielt auf die Uhr und stellt fest, daß er es nun doch noch rechtzeitig zur zweiten Halbzeit schaffen könnte. Tobias Hülswitt fragt Tim Staffel nach den Arbeitsweisen, die seinem Schreiben zugrunde lägen. Wie er an ein neues Projekt herangehe. Eine belanglose Frage, die eine belanglose Antwort provoziert: Staffel spricht vom Zufall, der Koinzidenz der Ereignisse, die ihn zum Schreiben bringen. Im Fall von ?Rauhfaser? jedoch schwebte ihm ein klares Konzept vor. Um die vertrackte Geschichte von Paul und David herum geht es ihm um die Bereitstellung von Öffentlichkeit und den zweifelhaften Wahrheitsgehalt von Nachrichten. Der Roman sollte nicht als Mediensatire verstanden werden, wohl aber als Abgesang auf die hehren Absichten des Medienjournalismus, wie die Episoden über Davids fotojournalistische Tätigkeit eindrucksvoll belegen. Die Zeit drängt, die nächste Frage kommt. Was es mit dem immer wiederkehrenden Motiv der Autounfälle in seinen Romanen auf sich habe. Der männliche Gast aus Reihe Fünf verläßt leise den Raum. Ein kurzweiliger Abend, eine gute erste Halbzeit, eine fürderhin unumgängliche, aber belanglose Diskussion über das Schreiben, die sich der Mann nicht mehr anhören mag.

Seine schottische Lieblingsfußballmannschaft hat an diesem Abend im übrigen in der Verlängerung verloren. Zu dem Zeitpunkt wird Tim Staffel schon wieder an der Bar gestanden haben, eine selbstgedrehte Zigarette rauchend, über die zweite Halbzeit dieses Leseabends nachdenkend. Muß ein Schriftsteller wahrheitsgemäß antworten auf die Frage, warum er schreibt?

Tim Staffel: Rauhfaser. Roman. Frankfurt am Main 2002: S. Fischer Verlag (Collection S. Fischer).

(Roland Leithäuser)

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