23. Mai 2003 Neue Szene
Ariel Dorfman ‚Der Tod und das Mädchen‘ (Premiere)
Grausamkeit im Slapstick-Gewand
Folterung und Vergewaltigung in Begleitung von Schubertmusik. Das hat Stil und ist dadurch ungleich grausamer. Paulina Escobar (Susanne Stein) hat ein solches Martyrium während der Diktatur Pinochets durchgemacht und wird noch nach 15 Jahren von Horrorbildern verfolgt. Doch jetzt herrscht Demokratie, ihr Mann, Gerardo Escobar (Tobias J. Lehmann), ist an die Spitze einer Kommission vom neuen Präsidenten berufen worden, die Verbrechen des diktatorischen Regimes aufklären soll. Paulina hat ihre Zweifel, ob diese Kommission nicht nur den Toten gerecht wird. Was wird aus den Überlebenden wie ihr?
In Dr. Miranda (Berndt Stübner), der ihrem Mann bei einer Reifenpanne geholfen hat, glaubt sie jenen Peiniger von damals wiederzuerkennen, der sie zu den Klängen des Schubertquartetts ?Der Tod und das Mädchen? misshandelt hat. Als ihr Mann betrunken eingeschlafen ist, überwältigt sie Dr. Miranda, fesselt ihn und zwingt ihn, ein Geständnis abzulegen. Doch dieser beteuert seine Unschuld.
Ihr Mann sieht sich und die Demokratie selbst auf den Prüfstand gestellt. Kann er den Qualen seiner Frau sowie allen anderen Folteropfern seines Landes nachträglich einen Sinn geben? Was wäre die angebrachte Wiedergutmachung? Auge um Auge, Zahn um Zahn. ?Du muss ihm dasselbe antun, wie er mir angetan hat. Vergewaltige ihn!? fordert seine Frau. Doch auch sie schwankt zwischen dem Wunsch, den Gefesselten zu töten oder ihm ein Geständnis abzupressen.
In dieser zugespitzten Dreiergeschichte erzählt Ariel Dorfmans Stück viel über Opfer und Täter, Hass und Genugtuung. Fast zehn Jahre trug der Autor die grob skizzierte Geschichte mit sich herum, ohne dass es ihm möglich war, sie endgültig auszuführen. Zu tief saß der am eigenen Leib erlebte Schrecken der Diktatur, zu viele Freunde hatten ihr Leben gelassen. Umso seltsamer mutet es an, dass die Inszenierung dieses Stückes (Regie: André Turnheim), das in direkter, unverstellter Weise Gewalt thematisiert, immer wieder in einen seltsamen Slapstick-Tonfall verfällt.
Dieser Tonfall mag beim anfänglichen Geplänkel der Eheleute noch passen, bei dem Paulina zunächst vermutet, es sei bestimmt eine Frau gewesen, die ihrem Mann bei der Reifenpanne geholfen habe. Doch im weiteren Verlauf, als Paulina mit gezogener Pistole ihr ?Opfer? immer wieder zwischen Leben und Tod bangen lässt, wirkt der flapsige Ton eher bemüht. Wie der Versuch, dem Grausamen durch diesen Vorabendserien-Sprachstil etwas Leichtigkeit entgegenzuhalten. Oder war es die Absicht, die Grausamkeit dadurch noch grausamer erscheinen zu lassen?
Es kommt zu seltsamen, teilweise auch gelungenen Brüchen. Paulinas Schwanken zwischen Verrücktheit, Hassgelüsten und Gelassenheit. Das große Geständnis Dr. Mirandas vor laufender Videokamera, das die drei Akteure danach gemeinsam anschauen, als wärs ein Urlaubsvideo. Die körperlichen Übergriffe und Anmachszenen zwischen Paulina und ihrem ?Opfer?. Die Figur des Ehemannes Gerardo wird gegen Ende etwas blass. Er, der am Anfang wie ein balzender Orang-Utan den Raum gestürmt hatte, muss tatenlos zusehen, wie seine Vorstellung von Demokratie mit der Realität wenig gemeinsam hat.
Und doch bleibt alles bis zum Schluss offen. Reicht es Paulina, dass Dr. Miranda ein von ihrem Ehemann verfasstes Geständnis abgeliefert hat? Ist er doch schuldig, weil er gewisse Ungenauigkeiten im Text korrigiert hat, dass sie plötzlich Paulinas Erinnerung entsprechen? Die drei Akteure verlassen nacheinander die Bühne, als ginge es auf einen gemeinsamen Strandspaziergang. Der erwartete Schuss aus dem Off bleibt aus.
(Babette Dieterich)
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