Schönbergs Gurre-Lieder zum Saisonabschluss in Tallinn
Mit einem wahrhaft atmosphärischen Konzertabend geht die 76. Saison des ERSO zu Ende. Die Saison 2002/2003 kann man als erfolgreich und hoch spannend bezeichnen, denn sie bot ein überaus abwechslungsreiches Konzertprogramm. Durch verschiedene Konzertreihen wie „Pohjatäht“ („Nordstern“), „Fantaasia“, „Kuldne Klassika“ („Goldene Klassik“) oder „ERSO soliste“ („ERSO Solisten“) wurde eine attraktive Mischung aus Bekanntem, Unbekanntem, Klassischem und Neuem erreicht. International bekannte Solisten und Dirigenten gaben ihr Debut mit dem ERSO oder waren wiederholt zu Gast. Während einer Saison gibt man im Schnitt 60 Konzerte, neben den regulären Auftritten im Konzertsaal „Estonia“ in Tallinn spielt man im Konzertsaal „Vanemuine“ in Tartu und im neuen Konzertsaal in Pärnu. Hinzu kommen Auslandsreisen und Konzerte im Rahmen internationaler Festivals wie „Eesti Muusikapäevad“/“Estnische Musiktage“, Festival „Klaver“/“Klavier“, „Tubin ja tema aeg“/“Tubin und seine Zeit“, „Klaaspärlimäng“/“Glasperlenspiel“, „opeNBaroque“.
Nicht vergessen sei, dass das Konzert in Zusammenarbeit mit der Rahvusooper/Nationaloper „Estonia“ entstand und somit auch für diese das Abschlusskonzert ihrer insgesamt schon 97. Saison bedeutet. Nicht nur das eigene Sinfonieorchester, sondern auch der Opernchor vergrößern das Ensemble des ERSO. Dazu kommt der in Europa einzige professionelle Männerchor RAM, dessen Qualität weit über die Grenzen Estlands hinaus bekannt ist. Zählt man nun die internationalen Solisten zusammen (aus Russland, Lettland, Litauen, Estland, Finnland), die für das Projekt ?Gurre-Lieder? engagiert wurden, so kommt ein gewaltiges Ensemble zusammen.
Wer kennt nicht Arnold Schönbergs Musik, wer weiß nicht von der atonalen und dodekaphonischen Musik des Gründervaters der Zweiten Wiener Schule. Seltener jedoch hört man dessen orchestrales spätromantisches Frühwerk, zu dem u.a. die Sinfonische Dichtung „Pelléas et Mélisande“ op. 5 (1903) und eben auch die Gurrre-Lieder gehören.
Schönberg hat an seinen „Gurre-Liedern“ von 1900 bis 1911 geschlagene zwölf Jahre gearbeitet. Die Uraufführung konnte erst 1913 stattfinden. Der riesig große Orchesterapparat nebst mehrfach geteiltem Chor und sechs Solisten ist vergleichbar mit den Dimensionen von Mahlers Achter. Es ist dieselbe Zeit, in der beide Werke entstanden. Es ist die Zeit der Jahrhundertwende, des Fin de siecle, in der Werke solchen Ausmaßes beziehungsweise solch symbolistischen Inhalts durchaus keine Seltenheit waren. Es sei hierbei neben den übergroßen Werken Mahlers, Skrjabins, Richard Strauss`, Franz Schrekers und Alexander Zemlinskis auch – im estnischen Kontext – auf Rudolf Tobias` (1873-1918) großbesetztes Oratorium „Des Jona Sendung“ (1908-09, UA in Leipzig) verwiesen. Eine Komposition, mit der der Komponist die Gattung zu reformieren gedachte.
Um 1900 fesselten die europäischen Künstler nordische Legenden und Sagen. Die Werke des dänischen Dichters, Publizisten und Naturwissenschaftlers Jens Peter Jacobsen (1847-1885) waren im deutschsprachigen Raum sehr gut bekannt und gaben dem jungen Schönberg den passenden Stoff für sein ausdrucksstarkes und beinahe impressionistisches Werk. Durch den Reichtum an Symbolen und der Liebesthematik ist es vergleichbar mit Richard Wagners „Tristan und Isolde“ oder Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“.
Der Stoff der „Gurre-Lieder“ basiert auf einer Novelle Jacobsons (Übersetzung ins Deutsche von Robert Franz Arnold), der wiederum aus der nordländischen Sagenwelt schöpft. Hauptperson ist Waldemar IV Atterdag, der mit seiner jungen geliebten Tove auf die Insel Siaelland ziehen möchte und dafür einen Liebeshort, das Schloss „Gurre“, erbauen läßt. Während Waldemar auf der Insel beim Schlossbau weilt, läßt seine Frau, die Königin Helwig, die junge Tove töten. Aus Schmerz über den grausamen Verlust beginnt Waldemar mit Gott zu hadern und rüstet sich zur wilden Jagd, zu der ihn Gott schließlich auch verdammt.
Schönbergs Musik erinnert durch ihre Dramatik und Chromatik stark an Wagner, aber impressionistische Züge lassen sie auch mit Debussy assoziieren. Die meisterhafte Instrumentierung erinnert teils an Gustav Mahler, teils an Richard Strauss hervor (eine gewisse Parallele gibt es auch zwischen der grotesken Partie des Narren Klaus und Strauss` Till Eulenspiegel). Man hat das Gefühl, eine konzertante Oper zu erleben, das Sujet ist zwar mit sicheren Worten umrissen, aber die literarische Sprache ist beinahe so symbolträchtig wie bei Maeterlinck (dessen Pelléas et Mélisande Schönberg ebenfalls vertont hat). Auf der Schwelle zum Expressionismus findet man hier die Verwendung eines Erzählers, der eine Sprechpartie hat, damit auf das Melodram „Pierrot lunaire“ vorweisend, mit dem der Sprechgesang dann weltbekannt wird.
In der heutigen Aufführung nun läßt Chefdirigent Nikolai Aleksejev einen wahrhaft monumentalen Schönberg erstehen. Der riesige Chor hat auf der mittelgroßen Bühne keinen Platz mehr, so dass er vor dieser plaziert ist und damit ein ganz eigenes raumakustisches Erlebnis bietet. Dirigent und Solisten befinden sich zwischen Orchester und Chor und ragen wie Felsen aus der Brandung. Gehört der erste von drei Teilen dem Liebesduett zwischen Waldemar und seiner geliebten Tove (dem Wort Taube nachgebildet), so erzählt am Ende dieses Teils die personifizierte Waldtaube vom Mord an Tove und leitet somit über zum kurzen zweiten Teil, in dem der seelisch verwundete Waldemar seinen Gott anklagt, ihn sogar der Tyrannei verdächtigt, weil dieser ihm die „letzte Freistatt, die ich meinem Glück erwarb“ zerstörte.
„Herrgott, deine Engelscharen
singen stets nur deinen Preis,
doch dir wäre mehr vonnöten
einer, der zu tadeln weiß.
Und wer mag solches wagen?
Laß mich, Herr, die Kappe
deines Hofnarrn tragen!“
Im Dritten Teil dann läßt Schönberg den Narren Klaus singen, den man durchaus als die zweite Gestalt Waldemars ansehen kann. Dann erheben die „Mannen Waldemars“ ihre kräftigen Stimmen. Alle nur denkbaren Nuancen eines gewaltigen Männerchors weiß Schönberg auszunutzen. Er geht bis hin zu fast geräuschhaften „Klangfächen“, eine Chor-Technik, wie sie später der estnische Komponisten Veljo Tormis (*1930) ähnlich anwendet. „Des Sommerwindes wilde Jagd“ eröffnet ein Orchestervorspiel. Dann tritt der Sprecher mit seinem seltsamen Text in Erscheinung, vom Orchester mal mit grotesker, mal mit fließend-schwebender, mal mit kraftvoller Musik untermalt, wobei der litauische Bariton Sigitas Dirse doch hin und wieder ins zu Gesangliche abgleitet. Ob Sprechen oder nicht, er entwickelt jene eigenartige und zauberhafte Atmosphäre, mit deren Komposition Schönberg ein echtes Meisterstück gelungen ist.
„Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut,
nun duckt euch nur geschwind,
denn des sommerlichen Windes
wilde Jagd beginnt.
[…]
Viel schlimmer kommt es,
als ihr euch nur je gedacht;
Hu! wie`s schaurig
in den Buchenblättern lacht!
[…]“
Als Abschluss bildet Schönberg einen Sonnenaufgang nach, der musikalisch der Meisterschaft der Impressionisten in nichts nachsteht. Hier nun tritt der gemischte Chor in Erscheinung und besingt huldigend das Aufsteigen der Sonne. Eingeleitet von seltsam-absurden Worten des Sprechers schwingen sich Musik und Sprache gemeinsam zum leuchtenden Finale empor. Sprecher: „[…]
O schwing dich aus dem Blumenkelch,
Marienkäferlein,
und bitte deine schöne Frau
um Leben und Sonnenschein.
Schon tanzen die Wogen am Klippenecke,
schon schleicht im Grase die bunte Schnecke,
nun regt sich Waldes Vogelschar,
Tau schüttelt die Blume vom lockigen Haar
und spät nach der Sonne aus.
Erwacht, erwacht, ihr Blumen zur Wonne.Gemischter Chor:
„Seht die Sonne
farbenfroh am Himmelssaum
östlich grüßt ihr Morgentraum.
Lächelnd kommt sie aufgestiegen
Aus den Fluten der Nacht,
läßt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht.“
Damit findet das mitreißende konzertante Drama um Liebe, Tod, Leiden und Naturschauspiel ein grandioses Ende. Ein Orchester-Chorapparat, der im glanzvollen Fortissimo nochmals eine Schlußsteigerung schafft, gehört in die erste Reihe und Aleksejev atmet im rauschenden Applaus sichtlich erleichtert aus. Er hat es geschafft, das riesige Ensemble sicher und mitreißend durch all die Klippen des Schönbergschen Klang-Ozeans zu steuern und die Solisten begeisterten durch wunderbare Musikalität und beinahe schauspielerische Diktion.
Einige Zeit zuvor hatte Aleksejev mit diesem Programm seine Landsleute in St. Petersburg begeistert und Ovationen geerntet. Das Publikum heute Abend applaudiert rhythmisch und will die Musiker nicht von der Bühne lassen. Mit einem fast schon persönlichen Abschlußwinken ins Publikum nimmt Aleksejev dann seinen Konzertmeister bei der Hand, damit das Zeichen zum Aufbruch gebend. Voller Emotionen endet die Saison für das Nationalorchester und die Nationaloper, aber die Sommerfestivals stehen vor der Tür, es wird im sommerlich-warmen Estland nur selten einen musikfreien Tag geben.
Hooaja loppkontsert/Abschlusskonzert der Saison 2002/03
ERSO; Rahvusooper „Estonia“
Arnold Schönberg (1874-1951)
„Gurre-Lieder“ (1900-1911, UA 1913)
Dirigent:
Nikolai Aleksejev
Solisten:
Taina Piira (Sopran, finnische Nationaloper – Tove)
Karlis Zarinš (Tenor, lettische Nationaloper – Waldemar)
Larissa Seliverstova (Mezzosopran, St. Petersburg – Waldtaube)
Leonid Savitski (Bariton, estnische Nationaloper – Bauer)
Algirdas Janutas (Tenor, litauische Nationaloper – Narr Klaus)
Sigitas Dirse (Bariton, litauische Nationaloper – Erzähler)
ERSO Eesti Riiklik Sümfooniaorkester (Nationales Sinfonieorchester Estlands)
Rahvusooper Estonia Sümfooniaorkester (Orchester der Nationaloper „Estonia“)
Rahvusooper Estonia Segakoor (gemischter Chor der Nationaloper „Estonia“)
RAM Eesti Rahvusmeeskoor (Nationaler Männerchor Estlands
23. Mai 2003 Konzertsaal „Estonia“, Tallinn, Eesti/Estonia/Estland
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