Vom Besten das Feinste

Ein Reisebrief: Kurt Masur in Tallinn mit Werken von Franck, Prokofjew und Ravel

Man nehme: César Francks einzige Sinfonie – ein Meisterwerk höchster innerer Gespanntheit, Sergej Prokofjews zweites Klavierkonzert – eines der schwersten, aber auch eines der charakterstärksten seiner Gattung und, als Bonbon dazu, Maurice Ravels La Valse. Das allein wäre schon genug, um ein musikalisch-kulinarisches Festmahl zu zubereiten. Aber nein, es gehört noch mehr dazu, um ein Publikum derart von den Sitzen zu reißen, wie es am heutigen Abend im Konzertsaal „Estonia“ geschehen ist.

Zum Beispiel ein Orchester der Spitzenklasse, und das Orchestre National de France ist zweifelsohne Weltklasse, vom Feinsten sozusagen, denn wo sonst erlebt man hautnah solch eine explosive Mischung aus Leichtigkeit, technischer Perfektion und vor allem Spielfreude. Besonders im Ravel wird diese Mischung uns einen speienden Vulkan präsentieren, dessen schönes, aber auch gefährliches Naturschauspiel wir aus sicherer Entfernung miterleben dürfen.

Ein Dirigent von Weltruf als Bändiger des Vulkans – Kurt Masur und das französische Nationalorchester sind wie ein einziges Instrument, niemand braucht mehr „dirigiert“ zu werden. Wichtig ist die Musik, wichtig die Nuancen, unglaublich das Steigerungspotential vom feinsten Pianissimo zum stürmischen Fortissimo. Ein Wink genügt und dem Sturmwind folgt Stille, ein Blick reicht aus, um das Schiff durch die Klippen zu steuern.

Jelizaveta Leonskaja – wie oft schon wurde ihre Kunst in aller Welt bewundert, ihr Name ist Legende. Und heute, als gäbe es die hohen technischen Anforderungen des Prokofjewschen Meisterwerkes nicht, gleitet sie über die Tasten, durchquert die Oktaven wie in einem einzigen Schwung, erweckt all die Charaktere, die der Musik innewohnen, sicher und ebenbürtig mit dem Orchester, und dem Dirigenten als Partner.

Kurt Masur und das Orchester sind offenbar bestens aufgelegt. Er kommuniziert mit sprechender Mimik mit seinen Musikern und diese legen sich richtig in die Riemen, dabei häufig ein Lächeln auf den Lippen (besonders im Schlagwerk). Auch wenn der Franck zunächst etwas zu schwerfällig beginnt, alles andere stimmt. Aus dem ersten Satz wird eine dunkle Schicksalssinfonie. Der zweite Satz, ein wenig aufgehellter in der Färbung, ist sprechende Musik par excellence. Im dritten Satz dann fließt die Musik, alles strömt der großen Coda zu, in der die dunkle Schicksalshaftigkeit aus dem ersten Satz durch ein mutig triumphierendes, nicht jedoch protzig lärmendes Finale erlöst wird. Seltsam, warum gerade im dritten Satz zunächst lange Zeit nichts vom Triumph zu spüren ist. Doch am Schluss sind düstere Stimmung und dunklen Farben überwunden, sie weichen einem hellen Finalschluss optimistischen Charakters. Francks Sinfonie ist, gerade auch durch ihre zyklische Form (in der die einzelnen Sätze thematisch miteinander verknüpft oder gar verschmolzen sind), eine wunderbare Synthese aus Tradition und Erneuerung der Sonatenform.

Man mag über sogenannte zugkräftige Konzertprogramme verschiedener Meinung sein, dieses war kein reißerisches Programm, jedes der Werke ist eine eigene Welt für sich. Inhaltsschwer, schicksalshaft, am Schluss bescheiden triumphierend die Francksche Sinfonie; solistisch ungeheuer schwer, desgleichen musikalisch höchst anspruchsvoll das Prokofjewsche Klavierkonzert, und als Höhepunkt der brodelnde Vulkan, Ravels La Valse, diesmal mehr Poeme vulcanique denn Poeme choréographique. Und trotzdem (oder gerade deswegen!) geht das Konzept auf, die Spannung der Erwartungen, die Spannungen in der Musik, sie bauen sich auf bis zum Schluss und entladen sich in tosendem Applaus, fast zwanzig Minuten (oder waren es mehr!?) stehende Ovationen, die auch nicht mit zwei Zugaben (Ausschnitte aus „Bolero“ und „Carmen“) zum Erlöschen gebracht werden können.

So wie der Chefdirigent des hiesigen Estnischen Nationalorchesters (ERSO) Nikolai Aleksejev zum Abschlusskonzert der Saison nach Schönbergs „Gurre-Liedern“ mit einem fast persönlichen Winken von seinem Publikum Abschied nahm, so verabschiedet sich heute auch Maestro Kurt Masur mit einem freundschaftlichen Winken von seinem dankbaren und begeisterten Publikum. Ein Konzertabend der Spitzenklasse geht zu Ende, voller Emotionen auf beiden Seiten. Zu sagen, man sei dabei gewesen, genügt nicht – man hat dieses Feuerwerk der Tonkunst miterlebt, so sollte es heißen. Sozusagen vom Besten das Feinste.

Orchestre National de France
Solistin: Jelizaveta Leonskaja (Klavier)
Dirigent: Kurt Masur
César Franck (1822-1890)
Sinfonie in d-moll (1888)Sergej Prokofjew (1891-1953)
Klavierkonzert Nr. 2 g-moll, op.16 (1913)Maurice Ravel (1875-1937)
La Valse. Poeme choréographique (1920)

29.05.2003, Konzertsaal „Estonia“, Tallinn/Estland



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