Orgelstunden zum Nachtkonzert

Das Bachfest Leipzig 2003 präsentiert zweimal die Goldbergvariationen: „schlaflos“ mit Shin’ichiro Nakano am Cembalo und „wunschlos“ mit Gunther Rost an der Orgel

Müde, erschöpft und doch aufs äußerste gespannt. So ähnlich mag sich der schlaflose Graf Hermann Carl von Keyserlingk gefühlt haben, wenn ihm sein junger Hauscembalist Johann Gottlieb Goldberg des nachts aus den 30 Veränderungen vorspielte, die Johann Sebastian Bach dem Grafen gewidmet hatte. Der Legende nach waren die Variationen dazu gedacht, Keyserlingk in seinen schlaflosen Nächten aufzuheitern und dazu werden sie ganz sicherlich auch in der Lage gewesen sein. Beim diesjährigen Bachfest erklang das Werk zweimal, einmal auf dem Cembalo und einmal in einer Bearbeitung für Orgel.

Das erste dieser beiden Konzerte fand sinnigerweise am späten Abend um 22 Uhr 30 statt, als solle die legendäre Aufführungssituation nachgestellt werden. Zuvor einen doppelten Espresso, der umgehend eine künstliche Schlaflosigkeit und nervöse Spannung erzeugte. Dann die Aria, die Beginn und Schluss von Bachs Variationenwerk bildet. Shin’ichiro Nakano spielte die Aria in vollendeter Schlichtheit und brachte ihre ganze Schönheit zum Vorschein. Die virtuose erste Variation dann in derselben wunderschönen Klarheit. Diese Klarheit wurde jedoch zunehmend durch Unsauberheiten getrübt. Es macht ja nichts, wenn sich ein Solist bei einem Werk wie den Goldberg-Variationen ab und zu mal vertippt, doch sollte dies möglichst nicht in fast jeder Variation und in vielen vermehrt vorkommen. Das nächtliche Konzert wurde so, wenn schon nicht zu einem Desaster, so doch zu einer Enttäuschung. Dies war deswegen umso bedauerlicher, da man spürte, dass Shin’ichiro Nakano als Musiker in der Lage wäre, eine glänzende Interpretation dieses Werkes zu bringen. Einzelne Variationen ließen keine Wünsche offen und waren mustergültig interpretiert, modern und schlicht, mit wenigen Wechseln in der Registrierung, sparsam und mit einer wunderbaren Klarheit durchdacht. Aber der Gesamteindruck wurde eben durch die ständigen Patzer in anderen Variationen zerstört.

Das Klischee eines Musikers, der technisch perfekt aber empfindungslos den Notentext herunterrattert wurde hier in extremer Weise durchkreuzt: Die Interpretation war musikalisch beseelt, aber technisch unzureichend. Wenn Nakano wirklich der bedeutendste japanische Cembalist ist, wie das Programmheft vermerkt, so fragt sich, wie es zu diesen spieltechnischen Defiziten kam. Offenbar war er nicht in Bestform, möglicherweise ist er kein Nachtmensch und hatte zuviel Kaffe getrunken, so dass seine Hände zitterten ? man weiß es nicht.

Ganz anders war dann die Orgelstunde im Gewandhaus mit Gunther Rost. Am späten Nachmittag und auf der Orgel klingt das Werk schon mal ganz anders. Nach der imperfekten Darbietung der vorangegangenen Nacht wurde man an diesem Nachmittag durch eine gänzlich vollkommene Interpretation überrascht. Verblüffend, wie klar und fehlerfrei man dieses schwierige Werk auf einer Orgel spielen kann!

Gunther Rost nahm sich die Freiheit, buchstäblich alle Register zu ziehen und so die einzelnen Variationen klar voneinander abzuheben. Und auch die verschiedenen Charaktere, die die einzelnen Stimmen innerhalb der Variationen darstellen, wurden mithilfe der zahlreichen Register unterschieden. Die Goldberg-Variationen erklangen bis ins kleinste musikalische Detail seziert und doch immer ihrem je eigenen musikalischen Gestus getreu.

Freilich darf man nicht vergessen, dass es sich hierbei um eine Übertragung einer Cembalo-Komposition auf die Orgel handelte und dass letztere mehr klangliche Möglichkeiten bereithält als ein Cembalo. Doch muss man auch sagen, dass es sich hier um eine überaus glückliche Bearbeitung handelte. Mit anderen Worten: Man war glücklich, dieses Werk in solcher Klarheit und Vollendung zu hören. Während die Goldberg-Variationen am Abend zuvor die Wirkung eines zu starken Espressos gehabt hatten, der nervös und fahrig macht, hatten sie nun die Wirkung eines wohltuenden Tees, der beruhigt und die Gedanken zu ordnen hilft. So unterschiedlich kann ein und dasselbe Stück wirken.

Nachtkonzert

Shin’ichiro Nakano, Cembalo
J. S. Bach: Goldberg-Variationen, BWV 988

und

Samstag, 31. Mai 2003
Großer Saal des Gewandhauses
Orgelstunde zum Bachfest

Gunther Rost an der Schuke-Orgel
J. S. Bach: Goldberg-Variationen

Freitag, 30. Mai 2003, Musikschule Leipzig, Konzertsaal

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