Lieben Sie Henselt?

Die Leipziger historischen Konzerte im Mendelssohn-Gartenhaus präsentieren „Liebesstudien”, Klavierwerke von Adolph Henselt, Clara und Robert Schumann, Frédéric Chopin und Ignaz Moscheles

Rauchen Sie, frag ich die junge Dame, zu der ich mich vielleicht etwas zu forsch an den Tisch gesetzt habe. Nein danke, sagt sie. Ich zünde mir trotzdem eine an. Was um Gottes Willen tun Sie denn dann immer, wenn Sie gerade nicht rauchen? Sie versteht mich nicht recht. Nun ja, sag ich, mit jeder Zigarette hat man immerhin wieder fünf bis zehn Minuten Lebenszeit einigermaßen passabel rumgekriegt. Ach, ist das ein Problem für Sie? Sie schaut verwundert und scheint meine Art von Humor nicht zu mögen oder nicht zu verstehen. Manchmal schon. Meine Antwort begleitet ein leicht provokantes Grinsen. Ich geh ins Konzert, sagt sie. Was denn, jetzt? Ja jetzt, aber ich sag das nicht, um Ihnen das mitzuteilen, sondern weil Sie fragten, was ich tue, wenn ich gerade nicht rauche. Zumal ich nie rauche. Ach so. Jetzt weiß ich nicht so recht, was ich von Ihrer Antwort halten soll. Sie schiebt mir einen Flyer hin. „Liebesstudien“ lese ich, „ein Konzert aus der Reihe Leipziger historische Konzerte“ . Liebesstudien? Und das bei einem Konzert mit Klaviermusik. Sie dürfen das nicht im akrobatischen Sinne verstehen, lacht sie, „Liebesstudien“ hat Robert Schumann die Etüden von Adolph Henselt genannt, die nachher im Mendelssohn-Haus gespielt werden. Adolph Henselt, ist das auch so einer wie Schumann und Bach und so? Wie Schumann ja, wie Bach nicht. Gibts da einen Unterschied? Allerdings. Naja, für mich ist das alles Klassische Musik, ich kenn mich da nicht so aus. Macht ja nichts, meint sie.

Sie hat mich nicht direkt gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber ich habs trotzdem getan. Nun sitz ich neben ihr in einem langen und dennoch irgendwie gemütlichen Saal. ?Gartenhaus am Mendelssohn-Haus? nennt sich der Schuppen. Zweimal „Haus“ klingt irgendwie blöd. Wenigstens kann man sich das Bier mit hochnehmen, das unten verkauft wird. Sie trinkt natürlich nur Saft, wahrscheinlich mag sie auch keinen Alkohol. Ich hab Glück gehabt, ihre Begleitung ist nicht gekommen. Vielleicht war sie gar nicht verabredet und wollte mich nur abschrecken. Obwohl ich mir schwer vorstellen kann, dass man nur so allein der Musik wegen herkommt. Und warum hat Schumann die Dinger nun „Liebestudien“ genannt, frag ich. Das wirst Du gleich hören, das Konzert wird moderiert, da wird alles erzählt über die biographischen und historischen Hintergründe. Henselts Etüden sollen so etwas wie Liebesbriefe sein an seine Geliebte. Künstler, sage ich. Liebesbriefe mit dem Klavier zu schreiben. Auf was für Ideen manche kommen. Meine Bekannte findet das romantisch. Woher weißt Du das alles, frag ich sie (inzwischen haben wir unbemerkt begonnen, uns zu duzen). Ich kenn den Moderator. Dietmar Nawroth? Nein, das ist der Pianist. Lothar Schmidt? Ja den. Wer ist das? Ein Dozent vom Institut für Musikwissenschaft, das ist vorn im Mendelssohn-Haus untergebracht. Studierst Du Musikwissenschaft? Ja! Na dann ists ja kein Wunder, dass Du über all das Bescheid weist. Was ich denn so mache, fragt sie nicht. Scheint sie nicht zu interessieren. Hätts ihr auch nicht gesagt, die kleinen arroganten Studentinnen müssen ja nicht alles wissen. Und außerdem kann nun mal nicht jeder studieren.

Der Vorteil daran, dass die Musik läuft, ist, dass man sich nur ganz leise unterhalten darf. So kann ich mich ganz dicht zu meiner Nachbarin hinüberbeugen und ihr ins Ohr hauchen, dass ich schon zwei Fehler bei dem Klavierspieler bemerkt hätte. Ihr Gesicht bleibt teilnahmslos, sie scheint mich zu ignorieren. Die Stücke müssen aber auch wirklich höllisch schwer sein. Auch im zweiten ist ein Verspieler selbst für Laien wie mich nicht zu überhören. Adolph Henselt muss überirdisch am Klavier gewesen sein. Das sagt auch so ähnlich der Moderator. Henselt ist im Programmheft abgebildet. Guck mal, hier steht Adoooph, zeig ich ihr das Programmheft. (Gleich zweimal hat man das „l“ im Namen vergessen.) Na und. Na und, mein Gott ist die zickig. Wenistens lächeln könnte sie mal. „Man müsste Klavier spielen können…“ flüstere ich, dann fliegen einem die Frauen nur so zu, selbst wenn man so aussieht. Dabei zeige ich auf das Bild von Henselt. Allerdings! Jetzt lächelt sie wenigstens ein bisschen. Ist so ein typischer Musikwissenschaftler, frag ich weiter? Meinst Du mich oder den Moderator? Den Moderator natürlich. Er hat eine wunderbar sanfte Stimme, antwortet sie, die hat nicht jeder. Doch jetzt hör endlich mal zu, dann lernste wenigstens noch was. Was soll ich schon lernen, denk ich, dass Henselt eine Geliebte hatte, die Rosalie hieß und ihren Mann und ihre vier Kinder für ihn verlassen hat? Sowas kommt in den besten Familien vor. Das wird nicht daran liegen, dass er ihr so manches Werk gewidmet hat. Oder doch? Zwei Etüden, eine von Chopin und eine von Moscheles (nie gehört die Namen), gefallen mir ganz gut. Die Sachen von Henselt sind eigentlich auch nicht schlecht.

Was machen wir jetzt, frag ich sie nach dem Konzert. Was Du machst, kann ich nicht wissen. Ach komm, jetzt hab ich mir für Dich anderthalb Stunden Musik reingezogen und nun willst Du mich einfach hier stehen lassen? Nimms nicht so schwer, das war gewiss nicht die schlechtest verbrachte Zeit in Deinem Leben. Sehen wir uns wenigstens wieder? Wenns der Zufall so will. Man muss dem Zufall doch eine Chance geben, Du gehst bestimmt ins nächste Konzert dieser Reihe? In eines geh ich auf jeden Fall noch, in welches, weiß ich aber nicht. Wenn Du dem Zufall eine Chance geben willst, dann musst Du Dir eben alle anhören. Wenn die alle so sind wie dieses, bin ich danach selbst Musikwissenschaftler. Da gibts weiß Gott Schlimmeres, was Dir passieren könnte. Jetzt lacht sie richtig, winkt noch einmal und geht. Dabei hat sie mir nicht einmal ihren Namen verraten. Frustriert stecke ich mir eine Zigarette in den Mund.

Seltsamerweise wird in dem Moment, wo sie aus meinem Blickfeld verschwindet, ihr Bild von Henselts Musik verdrängt, die sich plötzlich in meinem Bewusstsein nach vorn schiebt. „Sturm Du kannst mir nicht bezwingen“ oder so ähnlich hieß es da. Richtig pathetisch. Dass mich diese Musik nun nach Hause trägt, ist wirklich seltsam, so seltsam wie der Umstand, dass ich seit mindestens drei Stunden keine Zigarette mehr geraucht hab.

Leipziger historische Konzerte. Das unbekannte Tagwerk der Romantik

Zweites Konzert: „Liebesstudien“, Klavierwerke von Adolph Henselt, Clara und Robert Schumann, Frédéric Chopin und Ignaz Moscheles.

Dietmar Nawroth, Klavier
Lothar Schmidt, Moderation

Sonntag 1. Juni 2003 Gartenhaus am Mendelssohn-Haus

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