Svetlana Vasilenko: Die Närrin. Roman (Steffen Lehmann)

Svetlana Vasilenko: Die Närrin. Roman. Aus dem Russischen von Esther Kinsky. Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2003, geb., 18,90 Euro.


Mit den Augen einer Närrin

Die Geschichte kennt Narren als Außenseiter der Gesellschaft. Physiologische oder psychische Besonderheiten machten sie der Mehrheit der Bevölkerung suspekt. An den Höfen der Mächtigen waren sie die einzigen, die es wagen durften, Kritik zu äußern. Sie wurden ja sowieso nicht ernst genommen. Die dreizehnjährige Nadjka kehrt in ihr Dorf zurück. Ein Floß bringt sie flussaufwärts an die Stelle, wo sie vor Jahren ausgesetzt worden war. Ihr Bruder Marat rekonstruiert ihre Geschichte: Weil sie geistig behindert ist, hatte man sie ihrem Schicksal überlassen. In einem Kinderheim musste sie die Schikanen, Brutalitäten und den Spott der anderen Kinder und Betreuer erdulden und mit ansehen, wie ihr bester Freund, der sie beschützen wollte, dafür totgeschlagen wurde.

Nadjka floh. Ihr Weg führte sie quer durch die russische Steppe. Für die Menschen nimmt sie, je weiter die Geschichte voran schreitet, die Gestalt einer Wunderheilerin an. Doch im Jahr 1962 bestimmt der Kalte Krieg den Lauf der Geschichte, schreibt er ein besonders dramatisches Kapitel. Russland will auf Kuba Atomraketen stationieren. Die USA drohen mit einem Angriff. Die Kubakrise bringt die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe. Die Menschen erwarten das Ende der Welt. Nadjka soll die Welt retten.

Bei Vasilenko suchen die Menschen in Heiligenverehrung und alten Volksmärchen eine Antwort auf den gesellschaftlichen Umbruch. Vor allem ist es ein Versuch, die russische Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen, die fundamentalen Veränderungen, die in Russland stattgefunden haben und immer noch stattfinden. Und Vasilenko kennt das Gefühl der Bedrohung durch Atomwaffen aus eigener Anschauung sehr genau. Ihr Vater war lange Jahre Offizier in einer Raketenbasis, die auf keiner Landkarte verzeichnet war.

In ?Die Närrin? beschreibt die Autorin die Zeit der Restriktionen und der Angst mit den Augen des Bruders von Nadjka. In seinen Vorstellungen wird Nadjka zu Hanna, einer heimatlosen Wanderin und mythischen Lichtgestalt. Vasilenko greift damit auf ein Phänomen zurück, das in Krisensituationen überall auf der Welt auftritt: der Rückzug ins Religiöse und in die eigenen Traditionen und Überlieferungen. Dabei ist ?Die Närrin? auch ein Zustandsbericht über die verzweifelten Anstrengungen der sozialistischen Organe der Sowjetunion, die im verborgenen gelebte Religiosität der Bevölkerung auszumerzen.

Die Szene, in der Komsomolzen eine Zeremonie am Dreikönigstag auseinander treiben und mit Fäusten ihre vermeintlich richtige Weltanschauung propagieren, ist nicht so unwahrscheinlich, als dass sie nicht wirklich passiert sein könnte. ?Werde ein Mensch? sagt da eine Mutter zu ihrem Sohn, der sie gerade verprügelt hat. Doch mit diesem Charaktermerkmal ist es so eine Sache. ?Ich bin kein Mensch. Ich bin Kommunistin?, ruft die Erzieherin Traktorina Petrovna. Das entspricht dem entgegengesetzten Lebensentwurf. Auch die Schilderung der rabiaten Methoden im Kinderheim hinterlässt am Bild der leidenschaftlichen Erzieherin und am Bild der moralischen Strahlkraft der untergegangenen Sowjetunion einige Kratzer.

Jüngst erschien die Meldung, dass sich der amerikanische Mäzen George Soros aus Russland zurückziehen will. Als Begründung nannte er, der Staat sei in Russland nun stabil genug. Russische Intellektuelle indes sind der Meinung, der wahre Grund seien die kaum noch auszumachenden Differenzen zwischen dem Russland Wladimir Putins und dem Westen. Dass dem nicht so ist, zeigt auch Vasilenkos Buch.

(Steffen Lehmann)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.