Der Maestro mit dem Orchestre National de France

Ein Gespräch mit Kurt Masur am Rande seiner Osteuropa-Tournee

Kurt Masur – in Leipzig kennt ihn jeder, in der ganzen Welt schätzt man ihn hoch. Kurt Masur als musikalischer Weltbürger, als Leipziger, als Londoner, als New Yorker…, vielfältig sind die Stationen seines Lebens.

Und doch gibt es etwas, das durchaus nicht jedem zuvor bekannt war. Kurt Masurs Beziehungen zum Musikleben Estlands reichen beinahe ein halbes Jahrhundert zurück. Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre besuchte er die damalige estnische Sowjet-Republik, er dirigierte in Tallinn, er lernte den heute weltbekannten estnischen Dirigenten Neeme Järvi kennen, und er pflegte Kontakte zum estnischen Komponisten Eino Tamberg.

Eino Tamberg (*1930) gehört zur Generation der Komponisten der sogenannten „Neuen Welle“, er befindet sich somit in illustrem Kreise mit Arvo Pärt (*1935), Kuldar Sink (*1942-1995), Veljo Tormis (*1930) oder Jaan Rääts (*1932).

Der Beginn der sogenannte „Tauwetter“ Periode – nach dem Tod Stalins und mit Beginn der Chruschtschow-Ära – fiel günstigerweise mit dem Reifen einer jungen Komponistengeneration zusammen, an deren Spitze Tamberg 1956 mit seinem neoklassizistischen „Concerto grosso“ stürmte. Damit setzte ein Gegenprozess ein zum damals staatlich geduldeten nationalromantischen Stil, den Komponisten wie Eugen Kapp (*1908-1996), Gustav Ernesaks (*1908-1993) oder Lydia Auster (*1912-1993) vertraten. Die Wirkungen des erfrischenden, motorischen, neoklassizistisch pulsierenden Rhythmus der neuen Generation ist bisweilen noch heute im Schaffen der zeitgenössischen estnischen Komponisten zu spüren. Der finnische Komponist und Musikpublizist Kalevi Aho hat 1998 den sehr treffenden Begriff „Vitalism“ dafür geprägt. Aber auch als „Esto-Rhythm“ hat diese neue estnische Musik hohe Anerkennung erfahren, besonders im skandinavischen Raum und in Finnland.

Wenn Arvo Pärt und Kuldar Sink in den 1960er Jahren die radikalsten estnischen Avantgardisten waren, so kommt Tamberg besonders im Bereich des Musiktheaters eine unschätzbare Bedeutung für die estnische Musik zu. Aber gerade auch als Kompositionsprofessor (und Leiter der Kompositions- und Musikwissenschaftsabteilung 1978?87, seit 1989 Leiter der Kompositionsabteilung) an der Estnischen Musikakademie (bis 1991 Tallinner Staatliches Konservatorium) hat er die folgenden Komponistengenerationen entscheidend mit geprägt. Als Altmeister des estnischen Musiklebens leitet er bis heute die Geschicke der Kompositionsabteilung, zumal nach dem plötzlichen Tode wichtiger Persönlichkeiten der mittleren Generation wie Lepo Sumera (*1950-2000) oder Raimo Kangro (*1949-2001) die estnische Musik vom Schicksal schwer getroffen wurde.

Kurt Masur leitete 1960 am Staatstheater Schwerin die Uraufführung der Ballett-Sinfonie Eino Tambergs. Zuvor war er in Tallinn als Dirigent zu Gast und mehrere Auftragswerke sind Masur zu verdanken, z.B. die Ballett-Sinfonie (1959/60) oder die Tokkata (1967). Im Rahmen seiner Osteuropa-Tournee mit dem Orchestre National de France und der Pianistin Jelizaveta Leonskaja gab Kurt Masur nun am 29.05.2003 sein Tallinner Gastspiel. Auf dem Programm standen César Francks d-moll Sinfonie, Ravels La Valse und, passend zum fünfzigsten Todesjahr, Sergei Prokofjews zweites Klavierkonzert. Kurz vor dem Konzert im Tallinner Konzertsaal „Estonia“ kam es zum nachstehenden Gespräch, bei dem der Maestro sowohl über seine Verbindungen zu Estland, als auch über seine Zeit als Gewandhauskapellmeister, Chefdirigent der New-Yorker Philharmoniker und seine aktuelle Tätigkeit als künstlerischer Leiter des Orchestre National de France berichtete. Das Interview entstand im Auftrag der estnischen Zeitschrift Teater.Muusika.Kino (TMK), weshalb Masurs Verbindung zum estnischen Musikleben auch besonders berücksichtigt wurde.

Sie haben in den 1960er Jahren, genauer gesagt im Frühjahr 1960, die Ballett-Sinfonie des estnischen Komponisten Eino Tamberg (*1930) im Staatstheater Schwerin uraufgeführt. Können Sie uns darüber etwas erzählen? Was wissen Sie davon noch, was ist Ihnen im Gedächtnis geblieben?

Ich weiß sehr viel davon. Es war ein Auftragswerk von uns, ich hatte Tamberg darum gebeten, diese Sinfonie zu schreiben. Zuvor habe ich sein Concerto grosso, später dann auch die Tokkata dirigiert; und ich war sehr beeindruckt von seiner Persönlichkeit. Ich habe mich gefreut, ihn heute wiederzusehen, denn sein Werk ist ja ganz besonders doch Ausdruck der Mentalität, die sich hier ein bisschen bewegt zwischen der russischen Musik, Sibelius und der finnischen Musik sowie dem Einfluss der Moderne – und, wir wissen ja zum Beispiel, dass Pärt und viele andere musikalische Persönlichkeiten das estnische Musikleben in die Welt getragen haben.

Sie haben im Zusammenhang mit dem Auftrag für Eino Tamberg vorher in Tallinn geweilt. Tamberg hat mir im März 2002 bei einem Gespräch von dem künstlerisch fruchtbaren Kontakt mit Ihnen erzählt.

Ja, ich habe ihn hier in Tallinn getroffen, ich habe auch das Orchester in Tallinn dirigiert – das muss jetzt genau 45 Jahre her sein.

Haben Sie außer Werken von Tamberg auch Werke anderer estnischer Komponisten dirigiert?

Pärt auf jeden Fall – beispielweise seine zweite Sinfonie.

Hat sich eigentlich das Dirigieren im Laufe der Jahrzehnte verändert, ist es heute anders zu dirigieren, als noch vor 30-40 Jahren?

Nein, für mich nicht – ich bin reifer geworden, dass ist alles. Und ich bin erfahrener geworden und habe, Gott sei Dank, einen jungen Geist behalten. Gewisse Modeerscheinungen, die es damals schon gab, würde ich auch heute nicht nachvollziehen, die sehe ich als fragwürdig an, denn – wir sollten als Dirigenten doch Diener des Komponisten bleiben. Und möglichst viel über den Komponisten wissen und nicht in der Hauptsache sagen, ich mache es so, weil ich es so fühle – das zu sehr in den Vordergrund Treten stört mich ein wenig.

Sie haben ja sehr, sehr lange in Leipzig als Chef des Gewandhauses gewirkt…

…als Gewandhauskapellmeister, das ist der einzige Titel, der in Leipzig zählt. Es gibt keinen Chefdirigenten am Gewandhaus, es gibt seit Mendelssohn nur den Gewandhauskapellmeister.

Dann waren Sie in New York, auch für eine sehr lange Zeit, für elf Jahre. Was würden Sie rückblickend im Vergleich sagen können zu beiden Stationen?

Leipzig ist, weil ich vorher dort studiert habe, vor allem auch bei vielen Gewandhausmusikern, dann an der Oper war und dann noch einmal 26 Jahre lang als Gewandhauskapellmeister, eine musikalische Basis, eine musikalische Heimat geworden. New York war dann noch eine Krönung, weil natürlich die Bedeutung der New Yorker Philharmoniker international sehr groß ist; die Aufgabe war nicht leicht, weil die New Yorker ein Orchester sind, dessen Musiker sehr viel fordern von einem Dirigenten, viel Wissen, viel Überzeugungskraft. Ich bin glücklich, dass dies zu einer so wunderbaren Beziehung geführt hat bei den New Yorkern – die bis heute besteht.

Nach welchen Prinzipien haben Sie in Leipzig ihre Programme gewählt und nach welchen in New York?

Prinzipiell bestand da kein Unterschied. Allerdings – natürlich habe ich in New York ein bisschen mehr amerikanische Komponisten dirigiert, die ich in Leipzig nicht dirigiert hätte, denn es gibt Komponisten, die international bedeutend sind und solche, die mehr lokal bedeutend sind, die man nicht so gut transportieren kann. Das ist umgekehrt dasselbe gewesen. Aber im Prinzip spielen die großen Orchester der Welt dasselbe Repertoire, weil dieses gebraucht wird. Natürlich klingt bei den New Yorkern ein Bernstein anders, als beim Gewandhausorchester, aber trotzdem: Beide spielen es in der Richtung, wie sie erzogen wurden, stilistisch gesehen.

Was reizt Sie nun, nach Paris zu gehen, zum Orchestre National de France?

Für mich war die Begegnung mit diesem jungen und ambitionierten Orchester aufregend. Die Stadt selbst ist natürlich wunderbar, ich habe sie als Tourist oft besucht, aber auch das Orchester habe ich früher schon dirigiert. Es war ein typisches Pariser Orchester, wo man sozusagen das Gefühl hatte, sie haben eine wunderbare Leichtigkeit, aber vielleicht nicht immer den nötigen Ernst. Das hat sich sehr geändert. Das Orchester ist wunderbar jung, wunderbar ambitioniert und gehört für mich zu den ganz aufregenden Begegnungen der letzten Jahre.

Wie ist Ihr Kontakt zu den estnischen Dirigenten Neeme Järvi (Göteborger und Detroiter Sinfonie Orchester), Paavo Järvi (Cincinati Sinfonie Orchester) oder Eri Klas (Niederländisches Radio Sinfonie Orchester, Gastdirigent bei vielen amerikanischen Orchestern)?

Sehr freundschaftlich. Neeme Järvi schätze ich sehr hoch. Als wir beide noch sehr jung waren, habe ich ihn hier in Tallinn an der Oper erlebt. Er hat den „Otello“ dirigiert, das war schon damals sehr beeindruckend. Ich habe mich gefreut, in welch gerader Linie er immer weiter aufgestiegen ist. Und – es ist schön für einen Vater, zwei solch begabte Söhne zu haben (Paavo und Kristjan Järvi). Der eine von ihnen, Paavo, hat bereits die New Yorker Philharmoniker dirigiert und das Orchester hat ihn sehr hoch geschätzt.

Sie verfolgen bestimmt das Leipziger Kulturgeschehen, sind als Gründer und Leiter der Internationalen Mendelssohn Stiftung sowie als Professor an der Musikhochschule auch selbst aktiv beteiligt. Wie oft sind Sie in Leipzig?

Ein paar Tage im Jahr. Leipzig ist eine Stadt, die mich auch aus der Ferne immer wieder bewegt, und ich versuche natürlich auch bei bestimmten Dingen mit einzugreifen, mit zu helfen. Ich habe zum Beispiel gerade einen Brief bekommen von einer jungen Gruppe, die die Kongresshalle [Anm. GL: Die Kongresshalle am Zoo in Leipzig war nach dem Zweiten Weltkrieg, zwischen 1946 und 1980, wegen der Zerstörung des Gewandhauses Hauptspielstätte des Gewandhausorchesters.] wieder erneuern will, mit Recht, denn als das Gewandhaus neu gebaut wurde, gab es plötzlich keinen anderen Saal mehr in Leipzig. Das ist nicht nachvollziehbar, denn das Gewandhaus ist in dem Sinne eigentlich kein Mehrzwecksaal. Für Konzerte mit elektronischer Verstärkung, zum Beispiel für Jazz, ist dieser nicht geeignet, dazu ist die Akustik viel zu gut. Für Jazz braucht man besser einen alten Kinosaal oder andere Räumlichkeiten unkonventioneller Art. Das sind für mich so Dinge, die rückblickend so typisch waren für Leipzig. Kaum ist etwas neu, wird es so schnell verbraucht, dass es auch alt ist und man zusehen muss, dass man alles wieder in Ordnung bekommt.

Wie war Ihr erster Eindruck vom Tallinn des 21. Jahrhunderts?

Tallinn ist dort am schönsten, wo es alt ist. Die Geschichte dieser Stadt und dieses Landes, die mit all den Verwicklungen und Auseinandersetzungen mit den umliegenden Völkern eng verknüpft ist, besitzt eine enorme Bedeutung. Interessant ist die kulturelle Geschichte, wo man Einflüsse nicht nur aus Russland, sondern vor allem von den anderen angrenzenden mitteleuropäischen Ländern spürt. Wenn man diese Kulturgeschichte und auch die Musik betrachtet, dann ist das eine wunderbare Vermischung der Traditionen, mit Einflüssen auch von Skandinavien (z.B. Schweden) und Finnland; durch alles, was durch die Seefahrer herüber gekommen ist. Sie haben hier ja auch viele Hansestädte. Also überall da, wo die Seefahrt Verbindungen geschaffen hat, entstanden wirtschaftliche und kulturelle Zentren. Es ist für mich eine faszinierende Gegend überhaupt und Tallinn spielt da natürlich eine sehr bedeutende Rolle.

Wobei man vielleicht noch hinzufügen muss, dass nach dem Verkauf des durch die Dänen im 13. Jahrhundert eroberten estnischen Gebietes an den Deutschen Orden über sieben Jahrhunderte hinweg die deutsche Oberschicht die politische und kulturelle Vormachtstellung besaß, auch wenn das Gebiet beispielsweise Russland unterstellt war. Die Esten selbst konnten sich erst mit der Aufhebung der Leibeigenschaft Anfang des 19. Jahrhunderts freier entfalten und mit dem nationalen Erwachen kulturell, später politisch aktiv werden. Erst mit der ersten estnischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg (1918-1940) konnten sie dann ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Ich habe mit Interesse die neuen Unabhängigkeitsbestrebungen Estlands verfolgt und es war für mich faszinierend, mit welcher Beständigkeit und welchem Mut das einfach weitergeführt worden ist. Dies ist sehr imponierend, und wenn ein Land, welches so klein ist, über seine Stärken weiß, dann ist dies für mich ein Beweis, dass hier Menschen leben, die einen guten Geist besitzen.

Herzlichen Dank für das Gespräch

Ein Gespräch mit Maestro Kurt Masur am Rande seiner Osteuropa-Tournee


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.