Von der Wahrhaftigkeit in der Musik

Das Grosse Concert mit Bartel und Schostakowitsch unter Leitung von Herbert Blomstedt

Wie realistisch, facettenreich und tiefgreifend Musik sein kann, das konnte man heute erleben. Da wurde das Orchester zum Geschichtenerzähler, zur handelnden Person, zur imaginären Kinoleinwand und zum reellen Schlachtfeld. Erlebnis pur!

Für viele Besucher entpuppten sich die Kompositionen von Hans-Christian Bartel als sehr positive und angenehme Überraschung. Strukturell und harmonisch ansprechend, „erzählte“ zum Beispiel das Konzertstück für Violoncello und Kammerorchester, wie ein Cellist seine hektisch überreizte Umwelt konstruktiv beeinflussen kann. Mit seiner freundlichen Ausgeglichenheit – die durch schöne, klare Melodien deutlich wurde – und seiner inneren Stärke gelang es ihm, die zunächst eher ablehnenden und aggressiven Mitmenschen (unharmonische, grimmige Orchesterklänge als Antwort auf die Cello-Melodie) bis zum Ende der Komposition in eine stimmige, farbenfrohe und interessant gemischte Musik zu bringen. Bartel schreibt als Erklärung im Programmheft: „Sie dürfen alles tun, was sie wollen, nur: es darf nicht destruktiv sein.“ Wenn das im wahren Leben doch auch so einfach wäre…

Viel Witz und Verstand verbarg sich auch im nächsten Stück, David und Goliath, Szenen für Orchester. Nachdem das Werk ursprünglich für Klavier komponiert worden war, erklang heute erstmals die Orchesterfassung. Goliath ist zu hören als „zickzackförmig absteigende Vierergruppen von dissonanten Tonklumpen (eine Art Schattenboxen), grunzende Einzelakzente zur Störung von Davids Gesang“, David hingegen als „schlichte Liedmelodik mit einfacher Harfen-Selbstbegleitung oder „begleitet“ von Goliaths Wutgrunzen“ – so die Worte des Komponisten.

Dies wird einem gleich klar – wahrlich, man hört Goliath vor Ärger knurren, als er David begegnet. Das Stück ist auch räumlich interessant, denn Bartel erzielt interessante Effekte durch diverse Einsätze der Instrumentengruppen, wodurch das Gegenüberstehen von David und Goliath „sichtbar“ wird (z. B. gedämpfte Holzbläserklänge von „links“, die dagegen übermächtig wirkenden Blechklänge in voller Lautstärke von „rechts“). Dann stampft Goliath ärgerlich hin und her, was durch Xylophon, Holzstäbe und sonstiges Schlagwerk vertont wird, während Flöten- und Harfenklänge den Kontrast dazu bringen. Die Begegnung der beiden wird intensiver, die beiden Kontrahenten kommen sich näher. Das nun sehr aktive Orchester ist in vollem Rausch. Ein lauter Knall – Davids Schuß – dann eine Generalpause. Ist Goliath jetzt erlegt? Fast, aber tot ist er nicht. Ein taumelnder Klang verbildlicht den getroffenen und niedergestreckten Riesen, der es gerade noch mal schafft, den Kopf anzuheben, bevor er kurzzeitig wieder in seine horizontale Position zurückfällt. David schielt aus einer anderen Ecke, um sein Opfer zu beobachten. Goliath ist benommen, steht aber doch auf, die Musik steigert sich in einen hellen Klang, strahlt mit Xylophontönen. David und Goliath scheinen nun versöhnt zu sein, alles ist wieder gut.

Nach beiden Kompositionen gab es großen und wohlverdienten Applaus für den anwesenden Komponisten. Wie gut es doch tut und wie sehr es für zukünftige Konzerte wünschenswert ist, endlich mal wieder wirklich neue, sowohl ansprechende als auch verständliche Musik zu hören, die sich sowohl alter Traditionen als auch aktueller und frischer Stile bedient. Das allein war schon den heutigen Konzertbesuch wert!

Ein Meister der musikalischen Darstellung von konkretem Geschehen war auch Dmitri Schostakowitsch. Seine achte Sinfonie stellt das zentrale Stück seiner drei „Kriegssinfonien“ dar. Gedanken, die einem beim Hören der achten Sinfonie durch den Kopf gehen:

Besorgter Blick auf das weite Feld. Nur Streichinstrumente spielen hier, werden nach und nach von Bläsern unterstützt. Sehr langsam aber stetig wird die Musik dichter und intensiver, bis alle Musiker in das Geschehen einbezogen sind. Die Angst fängt an, in einem hochzusteigen, irgendetwas Grauenvolles kündigt sich an. Sie kommen immer näher, marschierend mit Trommelwirbel und Paukenschlägen. Immer lauter wird das ganze, bis es eindeutig ist: Brutalstes fortissimo bei allen Beteiligten. Becken, Pauken und Gongschläge – abgefeuerte Kanonenkugeln oder sonstige Kriegsgeschosse – fliegen dem Zuhörer nur so um die Ohren, die Lautstärke und Intensität ist fast schmerzhaft! Es geht einem durch und durch. Man „sieht“ förmlich das Schlachtfeld. Man hört sie, die Schreienden, die Verwundeten, die Rennenden, die Fallenden, die Verzweifelten, die vollkommen Ausgerasteten! Und wer das hört, der sieht es auch. Kaum auszuhalten, man möchte am liebsten wegsehen, weghören.

Dann, die Ruhe nach dem Sturm. Wie wohltuend sind da die traumhaft schön gespielten Melodien des Englischhorns. – Die Solistin erhielt dafür am Ende des Konzertes besonderen Applaus. – Das Leben geht weiter, sogar mit etwas Hoffnung. Aber, die „Pest“ kehrt wieder. Immense, langgezogene und spannende Steigerungen im Orchester – die man sich im einen oder anderen Moment hätte etwas intensiver vorstellen können – und der Wahnsinn geht wieder los. Marschieren, Schießen, Rennen, Fallen, Stürzen, Schreien, Leiden, Töten – man ist erneut mitten auf dem Schlachtfeld. Das irrsinnige, unmenschliche, vollkommen wahnsinnige Chaos. Ohrenbetäubende Kanonengeschosse. Seelische Panik, die den Körper für Augenblicke erstarren läßt. Man kann sich nicht entziehen. Die Angst sitzt jetzt in den Knochen. Und die konzentrierten Zuhörer wagen kaum zu atmen. Aber, Gott sei Dank, irgendwann hat das Schlachten ein Ende. Der (vertonte) Krieg wird zur unangenehmen bleibenden Erinnerung. Es kehrt absolute Ruhe ein. Bald spielen die Streicher sanfte Linien „gen Himmel‘. Wie ein vom Wind hin- und hergewehtes Blatt schweben daraufhin kleine Melodien zunächst von hohen, dann von tiefen Holzblasinstrumenten herab, später vom Cello übernommen. Leise, im Dur-Akkord, wie ein Dankesgebet für das Ende des Wahnsinns endet diese großartige, mahnende Sinfonie.

Hans-Christian Bartel (geb. 1932):
Konzertstück für Violoncello und Kammerorchester

Hans-Christian Bartel :
David und Goliath
Szenen für Orchester
Uraufführung der Orchesterfassung

Dmitri Schostakowitsch (1906-1975):
Sinfonie Nr. 8 c-Moll op. 65

Christian Giger, Violoncello
Gewandhausorchester, Herbert Blomstedt

4. September 2003, Gewandhaus, Großer Saal

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