Gelungene Saisoneröffnung: William Shakespeare Troilus und Cressida, Premiere (Ian Sober)

13. September 2003 Schauspielhaus Leipzig

William Shakespeare Troilus und Cressida (Premiere)

RegieWolfgang Engel
Bühne und VideoHorst Vogelgesang
KostümeKatja Schröder
MusikThomas Hertel
KampfszenenKlaus Figge
DramaturgieCarmen Wolfram

Darsteller: s. unten

Bilder: Schauspiel Leipzig


Troilus treu, Cressida treulos

Wir werden gleich mitten ins Geschehen geworfen. Das kündigt der Prolog an, und ob es dem Publikum nun behage oder nicht. Die Erzählperspektive lässt das Stück tatsächlich seltsam modern erscheinen, diesen ausschnitthaften Blick auf die Ereignisse, wie wir ihn eigentlich erst in der Neuzeit kennen. Der Prolog läuft übrigens als Reportage im Fernsehen.

Sicher ist es in erster Linie aber das Sujet, der (trojanische) Krieg, der die Präsenz des Mediums Fernsehen auf heutiger Bühne nahelegt. Auf der riesenhaften Videowand im Bühnenhintergrund dürfen wir denn auch miterleben, wie sich die trojanischen Kämpen nach der Schlacht und vor dem Duschen ihrer GI-Kluft entledigen, Menelaus stirbt Höllenqualen, wenn er am Bildschirm den letzten Klatsch über seine Helena und Paris verfolgt, und wenn Cressida im Austausch gegen Antenor Troja verlassen muss, hören wir einen Kommentar zu den „griechischen Bemühungen um eine humanitäre Lösung, die der Familienzusammenführung dient“.

Cressida sieht das wohl anders. Nach der ersten und einzigen Liebesnacht mit Troilus muss sie Troja auf Bestreben ihres (übergelaufenen) Vaters verlassen. Vorher schwört man sich ewige Treue, doch treu bleibt bloß Troilus, während Cressida alsbald in den Armen eines Griechen Trost sucht. Die Inkonsistenz nicht nur dieses Charakters hat manchem Kommentator des Stücks Rätsel aufgegeben. Die Deutung unter der Regie Wolfgang Engels‘ scheint jedoch schlüssig: Carolin Conrad gibt die Cressida anfangs schnippisch und keck, später desillusioniert, als Opfer, das in Diomedes den Beschützer sucht vor einer Horde geiler Griechen. Die wollen einer Bauchtänzerin an die Wäsche nach dem Zweikampf von Hektor und Ajax, wenn im griechischen Lager das Dosenbier fließt und die Saufgesänge durch die Nacht schallen.

In dieser Nacht wird Troilus Zeuge der Untreue von Cressida. Aurel Manthei bleibt in der Schlüsselszene blass – freilich hat man ihm erheblich Text weggestrichen, der ihm die Chance gäbe, die Rolle zu psychologisieren. Vielleicht ein weiterer Kniff der Inszenierung in Richtung Konsistenz der Charaktere: Den einfachen Jungen Troilus, der sich mitunter zu einem gewissen Maß an Leidenschaftlichkeit aufzuschwingen vermag, spielt Aurel Manthei jedenfalls gut.

Und Einfachheit wirkt schon wie moralische Rechtschaffenheit in dieser fauligen Atmosphäre der Auflösung moralischer Werte, die beide Lager verpestet. Ulysses, der intellektuelle, zynische Machtpolitiker, versucht die Schwächen Achilles‘ und Ajax‘ für das Interesse Griechenlands gegeneinander auszuspielen. Überhaupt wirken die Anführer der Griechen wie ein Panoptikum der Tagespolitik: Agamemnon ein korrupter 3.-Welt-General, Nestor ein weißhaariger Politbürobonze. Zynisch bis ins Groteske wird das Geschehen von Thersites kommentiert, dem hier eine Art Berichterstatterrolle zukommt. Im letzten Akt gluckt er auf einer albernen Marmorsäule wie ein verstopfter Rabe – ein Ausrutscher scheint’s in der sonst stilsicheren Inszenierung – und filmt die finalen Kampfszenen. Zum Dröhnen schwerer Artillerie und einem archaischen Uga-Aga-Uga-Gesang versinken die Helden Trojas und – im Gegensatz zum Original – behält ein großmäuliger Achilles mit mikrofonverstärkter Stimme das letzte Wort.

In vieler Hinsicht scheint die Deutung des Stücks aus tagespolitischer und medienkritischer Sicht geradezu zwingend und so naheliegend, dass man weniger über diesen Umstand, eher über die unterhaltsame, oft witzige Art ihrer Realisierung staunt. Zur Saisoneröffnung ein zweifelsohne gelungener Abend, und vor allem: lebendiger Shakespeare.

(Ian Sober)

PriamusGert Gütschow
HektorAndreas Keller
ParisTobias J. Lehmann
TroilusAurel Manthei
ÄneasThomas Dehler
Antenor Simon Werner
CassandraLiv Juliane Barine/Susanne Stein
AndromacheAnja Schneider
Kalchas Günter Schossböck
CressidaCarolin Conrad
PandarusMatthias Hummitzsch
AgamemnonJens Winterstein
MenelausOlaf Burmeister
HelenaMelika Foroutan
Achilles Stefan Kaminsky
AjaxMartin Reik
Ulysses Marco Albrecht
NestorDieter Jasslauk
DiomedesPatrick Imhof
PatroklusTorben Kessler
ThersitesMichael Schütz
MyrmidonenStudenten der Hochschule
KameramannSebastian Hubel
BauchtänzerinEleonora Andreeva


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