Die menschliche Stimme. Lyrische Tragödie in einem Akt von Jean Cocteau / Francis Poulenc (Johanna Gross)

Kellertheater der Oper Leipzig (Repertoire, Premiere am 30. September 2003)

?Die menschliche Stimme? (La voix humaine)
Lyrische Tragödie in einem Akt von Jean Cocteau / Francis Poulenc

Szenische Aufführung mit Klavier in deutscher Sprache

Die Frau: Hendrikje Wangemann
Am Flügel: Stefan Knoth
Inszenierung: Gundula Nowack
Bühnenraum/Licht: Michael Münster
Bühnenmeister: Tilmann Schneiderheinze
Requisite: Heidi Grießbach
Inspizient: Gerd Drechsel
Souffleuse: Brigitte Hauer


Hoffnungslos realistisch

Ein vergitterter Halbkreis rund um das mit kühler, meist greller Deckenbeleuchtung ausgestattete Arbeitszimmer (schnurloses Telefon , Glasschreibtisch, Stahlstuhl, Laptop, herumliegende Zeitschriften, Kaffeetasse) erweckt den Eindruck eines Käfigs. In diesem türlosen Halbrund eingeschlossen, windet, ringt, kämpft die verlassene, tödlich abhängige Geliebte um jedes einzelne Wort aus dem Telefon, Worte, die für das Publikum ungehört bleiben. ?Die menschliche Stimme? (La voix humaine) ist die Geschichte einer Frau, die von ihrem Geliebten für eine andere verlassen wurde. Nach einem Selbstmordversuch bleibt der Telefonhörer die einzige Bindung zu ihrem Liebhaber und der Außenwelt.

In geradezu voyeuristischer Weise werden die Theatergäste Zeugen dieses telefonischen Abschiedgespräches. Vor dem inneren Auge entsteht das vergangene Leben einer Liebesgemeinschaft: Es geht um die Briefe, die sie nachsenden soll. Um den Hund, der bei ihm ja viel besser aufgehoben ist. Und dem Publikum ergeht es wie der namenlosen Frau, die sich ans Telefon klammert. Man glaubt fast mit den Ohren sehen zu können.

Mit dem Erkennen des endgültigen Abschieds gewinnt ihre zunächst gespielte Gleichgültigkeit zunehmend an Verzweiflung. Die emotionale und seelische Zerrissenheit der verlassenen Frau offenbart sich in schonungsloser Selbstentblößung. Die erhoffte ?Erlösung durch die Liebe? zeigt sich als pure Selbstzerstörung, die nicht zu fordern wagt, sich an Illusionen klammert und im kleinsten Aufbegehren voller Schuldgefühle ist. So schwankt sie zwischen Selbstzweifel und Zorn, Verzweiflung und Optimismus.

Und Angst. ?Wir sind getrennt worden!? ruft sie immer wieder. Wie süchtig lauscht die betrogene Geliebte der unhörbaren Stimme aus der Telefonmuschel, in ihren weichen und doch festen Sopran alles von wehmütiger Erinnerung, höchster Erregung, Bitten und Zusammenbruch legend. Hendrikje Wangemann versteckt die Verzweiflung so eindringlich, dass sie sichtbar und lebensbedrohlich wird. Zwischen psychodramatischer Intensität und lyrischer Ruhe liegt das faszinierende Timbre ihrer Stimme, die alle denkbaren Emotionen durchläuft: schmeichelnd und verständnisvoll, anklägerisch vorwurfsvoll, gespielt kühl, zärtlich und liebevoll, bettelnd verzweifelt. Unterstrichen wird die musikalische Dramatik durch das nüchtern deklamierte, einfühlsam-prägnante Spiel Stefan Knoths, das die Wankelmütigkeit der namenlosen Frau nur noch umso intensiver unterstreicht. Dezent führt er die Sängerin zu den stimmlichen Ausbrüchen, die ergreifen, nie ausufern.

Von unendlich vielen Frauen werden tagtäglich solche Telefongespräche geführt. Am anderen Ende der Leitung spricht ein wenig bewegter Mann, der beides, Telefonat und Liebschaft möglichst bald zu einem schnellen Ende bringen will. Hendrikje Wangemann benötigt für ihren bestürzenden Monolog keine aufwendige Büro-Requisite. Ihre Gestik allein ist sehr eindringlich. Die erschütternde Gefährdung, im uneingestandenen Bewusstsein eines sinnlosen Unterfanges der letztmöglichen Konsequenz ins Auge zu blicken, macht sie ebenso deutlich wie die vergebliche Hoffnung auf Liebe. Einzig schade ist deshalb das melodramatisch anmutende Ende, wenn sie durch eine von Geisterhand geöffnete Tür in warmes gelbes Licht taucht, so als ginge sie geradewegs ins Paradies.

(Johanna Gross)

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