„Sobibor, 14.10.1943, 16 Uhr”, ein Film von Claude Lanzmann (Maria Hufenreuter)

Sobibor, 14.10.1943, 16 Uhr
Regie: Claude Lanzmann
Frankreich 2001; 95 Minuten
Filmkunsthaus naTo, Donnerstag, 5.2.2004
„Wir wollten nicht wie Schafe in die Gaskammer gehen“

In Ostpolen gibt es vor allem Wald und Sumpf. Damals wie heute. Man kann sich nicht recht entscheiden, ob man diese Stille dort als friedlich oder bedrohlich empfindet, wenn die wackelige Kamera den Schienen der Bahnlinie Chelm – Wlodawa bis zu dem kleinen verlassenen Bahnhof mit einem schäbigen Ortsschild folgt: Sobibor.
Während der Dreharbeiten für seine Holocaust- Dokumentation „Shoah“ 1979 hat Claude Lanzmann den Sobibor überlebenden Yehuda Lerner interviewt und entschieden, dass der mutige Aufstand der jüdischen Häftlinge des polnischen Vernichtungslagers seinen eigenen Film verdiente. Lerner, mehrfach der Ermordung durch die Deutschen entronnen, war unmittelbar an der Revolte beteiligt. In „Sobibor, 14. 10. 1943, 16 Uhr“ schildert er detailliert die Stationen seines Überlebenskampfes: Warschauer Ghetto, ein Arbeitslager in Weißrussland, Minsk und schließlich Sobibor. Dass man ihn während seiner zahlreichen Fluchtversuche aus acht Lagern nie erschossen hatte, begründet er so: „Es war mein Glücksstern, mein persönliches Glück.“

Lanzmann geht seinen Spuren nach, dem was 2001 noch davon übrig ist. Die Kamera zeigt, was Lerner erzählt. Spricht er von Transporten, hört man LKW oder Zuggeräusche und sieht rechts und links die Landschaften vorbeirauschen, den sumpfigen Wald, aus der Luft die Städtepanoramen von Warschau und Minsk, eine mächtige Leninstatue vor dem ehemaligen Minsker Judenrat, Reste von Baracken in den weißrussischen Wäldern und den Schornstein von Majdanek, eingehüllt in das Geschrei hunderter Krähen.
Als Lerner 1943 mit jüdischen Soldaten der Roten Armee im Zug saß, hatte ihnen auf dem Chelmer Bahnhof noch ein polnischer Arbeiter zugerufen: „Lauft weg, sie verbrennen euch in Sobibor.“ Niemand konnte das glauben. Doch als am nächsten Morgen der Waggon an der Rampe abgehängt wurde, bestand kein Zweifel mehr. Nur weil sich Lerner als Tischler ausgab, entging er dem Tod in der Gaskammer.

Während des simultan vom Hebräischen ins Französische übersetzten Gespräches werden die Nahaufnahmen von Yehuda Lerners offenem Gesicht von Bildern der Überbleibsel des Lagers unterbrochen. Keine special effects, keine Kunst, das Thema und Lerners selbst haben technische Raffinesse nicht nötig. Die schlichte Form lässt dem Inhalt dem ihm gebührenden Raum und Respekt. Lerners lebendige Stimme vermag genug zu fesseln. An keiner Stelle macht sich Verbitterung bemerkbar, er hat mit seinem Glücksstern auch innerlich gut überlebt.
Als sich Lanzmanns Fragen schließlich um den Aufstand drehen, bleibt er mit der Kamera fast ausschließlich bei Lerner, zu wichtig erscheint seine aussagekräftige Mimik und Gestik bei dieser Reise in die Vergangenheit. Minutiös erinnert sich der ehemalige Häftling an die rasiermesserscharfen Äxte, die er aus der Tischler- in die Schneiderbaracke brachte und damit zusammen mit einem jüdischen Soldaten zwei SS- Männern die Köpfe spaltete. Der Plan glückte, weil sie sich auf die Pünktlichkeit ihrer Peiniger verlassen konnten. Mit einem Abstand von fünf Minuten musste der Erste getötet sein, bevor der Zweite die Baracke betrat. Nicht einen Moment stellt man die Richtigkeit dieser Tat in Frage. Und Lerner macht aus seiner Freude, seinem Stolz keinen Hehl: „Das war kein Krieg, das war Vernichtung, wir waren keine Menschen, nicht mal Untermenschen, wir wussten nicht, was wir waren. Aber wir wollten nicht wie Schafe in die Gaskammer gehen Und natürlich freut man sich dann, wenn man es geschafft hat.“

Schließlich brach der Aufstand offen los und viele starben unter den Schüssen der ukrainischen Aufseher und in den Minenfeldern hinter dem Zaun. Lerner versteckte sich im Wald.
250 000 Juden wurden in Sobibor vergast, aus Deutschland, Österreich, der Slowakei, Frankreich und den Niederlanden, meist direkt nach ihrer Ankunft. 320 der 550 jüdischen Arbeitshäftlinge konnten durch den Aufstand entkommen, aber für mehr als die Hälfe endete die Flucht mit ihrer Festnahme und Ermordung. Denn weder die Zivilbevölkerung noch die Partisanen kamen den Flüchtenden zu Hilfe. Sie wurden von Wehrmacht, SS, Polizei, sogar mit Flugzeugen gejagt. Trotzdem gab es nie wieder Vernichtungstransporte nach Sobibor und Überlebende wie Yehuda Lerner liefern einen wichtigen Beweis für den so oft vergessenen jüdischen Widerstand.(Maria Hufenreuter)

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