Aus Leipzigs musikalischer Glanzzeit.

Der Lehmstedt Verlag veröffentlicht Alfred Richters musikalische Erinnerungen

Alfred Richter (1846-1919), Sohn des Thomaskantors Ernst Friedrich Richter (1808-1879), Pianist, Komponist, Chorleiter, Musikschriftsteller und, wie einst sein Vater, Lehrer am Leipziger Konservatorium, verfasste 1913 unter dem Titel „Aus Leipzigs musikalischer Glanzzeit“ ein Erinnerungsbuch, das 90 Jahre unveröffentlicht blieb und als Manuskript in der Bibliothek des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig lag, bis es dessen stellvertretende Direktorin Doris Mundus zu Anfang des Jahres 2004 im Leipziger Lehmstedt Verlag herausgab. Nach eigenen Aussagen stützte sich der Verfasser auf zwei Druckwerke, auf das von 1843 bis 1893 reichende Lehrer- und Schülerverzeichnis des Königlichen Konservatoriums und auf die vortreffliche Festschrift Alfred Dörffels zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhauskonzerte („Geschichte der Gewandhausconcerte zu Leipzig vom 25. November 1781 bis 25. November 1881“). Dazu kamen Nachschlagewerke und direkte Anfragen an die Betreffenden, wenn dem Schreiber das Gedächtnis verließ. Aktenmaterial lag nicht vor. Den Hauptanteil jedoch bildeten Erinnerungen an teils Erlebtes, teils Erzähltes, sodass Irrtümer nicht zu vermeiden waren und deshalb eine erschöpfende Darstellung des Leipziger Musiklebens keinesfalls erwartet werden kann. Das lag auch nicht in der Absicht des Verfassers, vielmehr wollte er jene Persönlichkeiten aus der Vergessenheit wieder hervorholen, an denen die Nachwelt noch interessiert sein könnte.

Unter Leipzigs musikalischer Glanzzeit versteht Richter im eigentlichen Sinne jene Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die mit der Tätigkeit Felix Mendelssohn Bartholdys als Gewandhauskapellmeister im Jahre 1835 begannen und mit dem Antritt Arthur Nikisch´s im gleichen Amt 1895 endeten, jenen Zeitraum also, der musikgeschichtlich vom Widerstreit zwischen den Vertretern der „Leipziger Schule“ und den „Neudeutschen“ geprägt war.

Neben Schaffenseifer, Bienenfleiß und Weltoffenheit zeichnete sich die Leipziger Bürgerschaft auch durch künstlerische Neigungen aus und hatte zahlreiche Musikeinrichtungen unterschiedlichster Art entstehen lassen, die, weltweit beachtet, Leipzig zu einem Musikzentrum Europas aufsteigen ließen. Überschattet von Gewandhaus und Thomaskirche wirkten die Oper, der Orchesterverein „Euterpe“, einige Singakademien und zahlreiche Dilettantenvereine, die Beachtliches zu leisten imstande waren.

In seinen Darlegungen wird Richter der Leipziger Vielfalt vollauf gerecht und meidet die Gefahr, das Musikleben der Stadt auf seine Exponenten zu beschränken. Das Musikverlagswesen klammert er allerdings aus.

Breiten Raum in den Memoiren nimmt das Leipziger Konservatorium der Musik ein, eine Institution, die 1843 Mendelssohn ins Leben rief. In den Aussagen zur Konservationsgeschichte jedoch unterläuft dem Autor ein Fehler, indem er meint, den Gedanken zur Gründung einer Musikschule hätte als erster ihr späterer Direktor Conrad Schleinitz entwickelt. Indes: Die Idee stammte nicht von ihm, auch nicht von Mendelssohn, sondern ging auf den Plan des Hofrates und Domdechanten Dr. Johann Georg Keil zurück, der im Direktorium des Großen Concerts Sitz und Stimme hatte (dokumentiert von Paul Röntsch in der „Festschrift zum 75 jährigen Bestehen des Königlichen Konservatoriums der Musik zu Leipzig“).

Ansonsten stellt Richter den schon ziemlich bejahrten Schleinitz als eine „interessante Figur in Leipzigs musikalischem Treiben“ dar, dessen Freundschaft zu Mendelssohn besonders nach dem frühen Hinscheiden des Komponisten „geradezu in Idolatrie“ ausartete. Für alles, was nach Mendelssohn folgte, brachte Schleinitz kein Verständnis auf. Berlioz, Brahms und gar erst Wagner und Liszt hasste der Direktor bis auf den Tod. Ständig ermahnte er die Schüler, die im Verdacht einer zukunftsgerichteten Kunstauffassung standen, sich nicht „vom Verführer umgarnen zu lassen“. Selbst Schleinitz´ arge Reibereien mit den Gesangslehrern des Instituts schildert Richter objektiv und amüsant zugleich, fühlte sich doch der Konservatoriumsdirektor als ehemaliger Thomaner den Experten gegenüber in hohem Grade überlegen. Außer Richters Memoiren bestätigen andere Dokumente dieses ständige Gezänk durchaus.

Das Ausmaß des Raumes, welches die Persönlichkeiten in Richters Schrift einnehmen, hängt nicht von ihrer künstlerischen Bedeutung ab, sondern von der Gewichtigkeit der Betreffenden innerhalb des Leipziger Musiklebens und vom Stellenwert in den Erinnerungen des Autors. Deshalb geht Richter auch sehr ausführlich auf den Konservatoriumslehrer Ernst Ferdinand Wenzel ein, weil er vor allem ein stadtbekanntes Original, weniger aber ein beachtenswerter Musiker war.

Wenzel gehörte auf dem Konservatorium noch zu denjenigen, die Mendelssohn an das Institut geholt hatte. Carl Löwe beschrieb in einem Brief an seine Frau den damals jungen, schwarz gelockten Klavierlehrer als „niedlich und allerliebst“. Später stand Wenzel so recht im Mittelpunkt des Leipziger Kunstlebens, kannte alle Künstlerpersönlichkeiten und wäre, wenn er nicht eine allzu große Abneigung gegen das Schreiben gehabt hätte, durchaus in der Lage gewesen, eine Kunst- und Künstlergeschichte zu verfassen. So aber verflüchtigte sich das meiste in mündlichen Gesprächen. Wenzel war ein Mensch zwiespältigen Charakters, einerseits der geistreich witzige Lehrer, andererseits der leicht erregbare, jähzornig aufbrausende Pädagoge, der tobend und schimpfend, Sarkasmen um sich werfend, den Schülern Furcht und Schrecken einflößte, was besonders auf Neuankömmlinge befremdend, ja sogar abstoßend wirkte. Schon sein Äußeres erregte Aufsehen. Besonders die Damen fanden, dass er mit seinem Charakterkopf und dem vollen Haar Beethoven ähneln würde, was ihn natürlich mit Stolz erfüllte. Keiner aber vermochte zu sagen, was Wenzel eigentlich als Pianist zu leisten imstande war. Nie spielte er seinen Schülern etwas vor, baten sie ihn darum, reagierte er äußerst unwirsch. Richter ging diesem Rätsel nach, konnte es aber nicht lösen. Offenbar wusste er nicht, was Emil Kneschke 1868 in „Das Konservatorium der Musik zu Leipzig“ dazu anmerkte: Seitdem Wenzel während eines Konzertes in seiner Jugend einen Gedächtnisausfall gehabt habe, sei er unter keinen Umständen mehr bereit gewesen, sich vor Zuhörern zu produzieren.

Ein anderer Lehrer, den Mendelsohn von Gründung an an das Konservatorium berufen hatte und über den Richter in aller Ausführlichkeit schrieb, war Moritz Hauptmann, einer der bedeutendsten Musiktheoretiker des 19. Jahrhunderts und Thomaskantor, ein Mann von ruhiger Heiterkeit, lächelndem Ernst und großer Güte. Ihm stand Richter besonders nahe, weil er die Ehre hatte, sein Patenkind zu sein. Hauptmann gelang es als erstem, ein vollständiges System der spekulativen Harmonik aufzustellen. Seine Überlegungen finden sich in dem berühmten Werk “ Die Natur der Harmonik und Metrik“ von 1853.

Richter hingegen hat vollkommen recht, wenn er schreibt, dass Hauptmann als Theorielehrer sein Fach „indessen nicht so hervorragend“ unterrichtete, wie das bei einem Manne seines Formats zu erwarten gewesen wäre. Obwohl die anderen Theorielehrer weitaus erfolgreicher den Lehrstoff zu vermitteln imstande waren, sagte mancher der Konservatoristen voller Stolz von sich, er sei ein Schüler Hauptmanns, so auch der junge Norweger Edvard Grieg.

Das, was Richter im allgemeinen darlegt, stellte Dag Schjelderup-Ebbe anhand der Studienbücher des norwegischen Komponisten für den Einzelfall fest: Die bedeutendsten Leistungen des Studenten Grieg entstanden nicht durch Hauptmanns Unterricht, sondern durch den Unterricht Ernst Friedrich Richters, so dass den Aussagen von Alfred Richter voll zugestimmt werden kann. Interessant ist außerdem die Tatsache, dass Grieg in seinem autobiografischen Aufsatz „Mein erster Erfolg“ den äußeren Rahmen der Theoriestunden bei Hauptmann in ähnlicher Weise beschrieb, wie Richter das tat, nur dass letzterer noch mehr Details und Anekdotisches hinzuzufügen wusste.

Grieg gehörte zu den prominentesten Schülern des Leipziger Konservatoriums. Auch ihm widmete Richter einen recht umfänglichen Abschnitt, und das hatte seinen Grund. Zehn Jahre vor den Memoiren Richters schrieb Grieg seinen autobiografischen Aufsatz „Mein erster Erfolg“, den er 1905 auf deutsch veröffentlichen ließ. In dieser Schrift schildert Grieg seinen Theorielehrer Ernst Friedrich Richter als einen Mann, der im Unterricht nur das gelten ließ, was den Regeln des strengen Satzes entsprach, der keine Abweichungen duldete und unbedingten Gehorsam forderte, der mit dicken Bleistiftstrichen alle Verstöße gegen die Harmoniegesetze ahndete und für die Individualität seines Studenten kein Interesse zeigte. Verglichen mit biografischen Darstellungen anderer Autoren über diesen Lehrer, mit Berichten aus der Konservatoriumsgeschichte, mit persönlichen Äußerungen Richters und seines Sohnes sowie den eigenen Studienbüchern Griegs sind die Erinnerungen des Norwegers an den Harmonielehrer von geradezu peinlicher Subjektivität und stimmen mit den Tatsachen kaum überein. Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, das Alfred Richter von den Äußerungen Griegs erfuhr, zumal Grieg bereits in all den Jahrzehnten vor der Niederschrift seines Aufsatzes in der Öffentlichkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Leipziger Musikschule und den Großteil ihrer Lehrer auf das Übelste herabgesetzt hatte und mit seinen Angriffen sogar eine objektive Beurteilung des Konservatoriums für lange Zeit durchkreuzte.

Griegs permanente Angriffe blieben natürlich nicht unerwidert. Als der Norweger im Peters Verlag einen Zyklus neuer Lieder herausbrachte (wahrscheinlich „Das Kind der Berge“ op. 67), ergriff Richter die Gelegenheit und veröffentlichte 1899 in „Die Signale für die musikalische Welt“ über Grieg und die skandinavische Richtung seines Schaffens einen Artikel, den er später ungekürzt seinen Memoiren beifügte. Diese Form der Kritik an einen Komponisten wiederholt sich in den Erinnerungen nicht noch einmal. Richter beanstandet Griegs Vorliebe, Wohlklänge und Dissonanzen des Effektes, der Neuheit wegen miteinander zu verbinden und bewertet eine derartige Struktur ohne ästhetische Funktion in ihrer Grellheit als das Hässliche in der Musik. Hinnehmbar sind dagegen die Feststellungen, dass Grieg seine Werke „nicht aus dem Ärmel schüttelte,“ sondern sie mühsam erarbeiten musste, dass er nur schleppend vorankam und ihm Tonwerke großen Ausmaßes selten gelangen. Und in der Tat: Grieg durchlebte neben Zeiten produktiven Schaffens immer wieder Perioden eines kraftlosen Zustandes, in denen er nichts hervorbrachte und ihn Untauglichkeitsgefühle bedrängten. Solche Gemütslagen wechselten bei ihm mit einer Gewaltsamkeit, die dem Schaffensakt einen beinahe explosiven Charakter gab. Grieg vermochte eben nur „ruckweise“ zu komponieren, wie er es selbst nannte.

Bei aller Gegnerschaft verhält sich aber Richter innerhalb der Auseinandersetzungen weit sachlicher als Grieg, der nach den Worten Carl Reineckes im „Harmoniekalender“ von 1902 und in „Velhagens und Klasings Monatsheften“ Jahrgang 1905 „eine wahre Lauge von Spott über das Leipziger Konservatorium ausgegossen“ habe.

Am 30. November 1878 führte das Heckmannsche Quartett aus Köln im Rahmen der Extrakonzerte des Gewandhauses Griegs g-Moll-Quartett auf, das vom Publikum freundlich aufgenommen, vom Kritiker der „Signale für die musikalische Welt“, Eduard Bernstein, dementgegen verrissen worden war. Auch Alfred Richter erlebte das Konzert und meinte zu dem neben ihm sitzenden Friedrich Hermann (Bratschist und Geigenlehrer), „das sei kein Streichquartett, Grieg solle doch ein Klavierquartett daraus machen“. Hermann sah ihn erstaunt an und entgegnete, „ganz dasselbe habe er Dr. Abraham vom Musikverlag Peters gesagt, dieser habe es Grieg geschrieben und dessen Empfindlichkeit dadurch in so hohem Grade erregt, dass er einen höchst gereizten Brief von ihm erhalten habe“.

Genau diese Briefe, sowohl von Grieg als auch von Dr. Abraham, sind erhalten und erfuhren 1997 durch Finn Benestad und Hella Brock ihre Veröffentlichung (Edvard Grieg, Briefwechsel mit dem Musikverlag C. F. Peters), – ein Beweis mehr, das Richters Memoiren doch auf einer soliden, im großen und ganzen historisch korrekten Basis angesiedelt sind.

Wohltuend ist es zu lesen, wie sehr sich Richter bemüht, dem Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der nach 35-jähriger Tätigkeit gegen seinen Willen, doch bei vollem Gehalt, pensioniert wurde. Den schwachen Seiten stellt Richter die Stärken des Musikers gegenüber und versucht, böse Verleumdungen gegen ihn zu entkräften. Richter betont, dass die einzige fortschrittliche Tat Reineckes darin bestand, dem einseitigen Mendelssohnkultus ein Ende gesetzt zu haben. Das bedeutete nicht, dass Mendelssohn von ihm vernachlässigt worden wäre, sondern dass von da an auch die Werke Schumanns häufiger auf den Programmen erschienen. Sehr bald gehörten seine Sinfonien, die sinfonische Dichtung „Manfred“ und das Oratorium „Das Paradies und die Peri“ zu den Lieblingsstücken des Leipziger Publikums. Eine mehr und mehr erstarkende Gruppierung unter den Direktoriumsmitgliedern verlangte inzwischen, auch die Werke Brahms´ im Gewandhaus aufzuführen. Reinecke fügte sich und machte den Umschwung mit. Richter bezweifelt aber, ob ihm die Angelegenheit wirklich zur Herzenssache wurde. Wie dem auch sei, als Autor erkennt Richter an, dass sich Reinecke gemäß dem Beschluss des Direktoriums der Einstudierung der Brahm´schen Werke, wenn auch nicht mit Begeisterung, so doch mit Fleiß und Sorgfalt unterzog. – Groß soll Reinecke als Klavierspieler gewesen sein. Seiner musikalischen Begabung stand eine hervorragende technische Veranlagung zur Seite. Feuer und Lebendigkeit seines Spiels ließen aufhorchen. Am großartigsten jedoch war er nach Richters Bericht als Begleiter und da besonders wieder als Liedbegleiter. In dieser Hinsicht gab es selbst bei seinen Gegnern keinen Widerspruch. Als Reinecke das Amt des Gewandhauskapellmeisters übertragen bekam, kannte ihn die Fachwelt vor allem als trefflichen Klavierspieler, weniger als Orchesterleiter. Manche hielten ihn daher nicht für den rechten Mann am Dirigentenpult des Gewandhauses. Reinecke gelang es nie, derartige Vorwürfe gänzlich niederzuringen. Als durch die Gründung der Liszt-Konzerte und der akademischen Orchesterkonzerte unter Hermann Kretzschmar ein neuer Zug ins Leipziger Konzertleben kam, das Publikum anfing, in diese Konzerte zu laufen und Interesse an den Neutönern zu zeigen, war die Zeit mehr als reif dafür, den Wechsel an der Spitze des Gewandhausorchesters zu vollziehen. Jene Geschmacklosigkeit hingegen, die sich das Direktorium bei der Entlassung Reineckes leistete, indem es dem Gekündigten gleichzeitig antrug, seinen Nachfolger, Arthur Nikisch, bis zur Klärung notwendiger Formalitäten zu vertreten, bleibt unerwähnt.

Im Nachwort schreibt Doris Mundus über den Zeitungsherausgeber und Lektor am Konservatorium Franz Brendel, dass er zusammen mit David, Hauptmann, E. F. Richter, Reinecke, Moscheles und Wenzel die „Erinnerung an Mendelssohn regelrecht und im wahrsten Sinne des Wortes konserviert“ habe. Alfred Brendel in eine Reihe mit den Vertretern der Leipziger Schule zu stellen, ist ein Fehler. Als alleiniger Herausgeber der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ab der ersten Folge des Jahres 1845 trat Brendel erstmals 1851 öffentlich für die „Fortschrittspartei“ um Wagner und Liszt ein. In den folgenden Jahren förderte er aktiv die sogenannte „Zukunftsmusik“, prägte sogar die Bezeichnung „Neudeutsch“ für „Fortschrittspartei“ und erhob die „Neue Zeitschrift für Musik“ zum Zentralorgan dieser Bewegung. Er war es, der Wagners Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ druckte, weshalb er auch am Konservatorium seiner Lehrtätigkeit enthoben werden sollte. In den Veröffentlichungen nach 1860 beurteilte zwar Brendel Mendelssohn und sein Werk gemäßigter, doch wechselte er nie die Richtung seiner Gesinnung.

Richter beobachtet haargenau, schlussfolgert treffend und würzt so manche Personenbeschreibung mit bestätigenden Anekdoten, mit weniger Worten gesagt: Richter besaß eine frappante Menschenkenntnis. Auf diese Weise gewinnen seine Schilderungen an Lebendigkeit und Witz. So erzählt er nicht ohne Pikanterie: Als einmal die Choristinnen während einer Probe sich sehr unaufmerksam verhielten, soll Mendelssohn ihnen zugerufen haben: „Meine Damen, wenn sie nicht besser aufpassen, stecke ich bei der Aufführung jeder von Ihnen einen Thomaner unter den Rock.“ Man kann sich denken, was für ein Gekicher das auslöste. Wehe, wenn das ein anderer gesagt hätte!

Über Bach schreibt er: Der Mann machte die Stellung und nicht wie in heutiger Zeit die Stellung den Mann.
Die Charakteristik des schweizerischen Gesangslehrers mutet fast tiefenpsychologisch an: Er scheint schlimme Erfahrungen im Leben gemacht zu haben, denn er war, was man ein zerrissenes Gemüt nennt.

Richters Schreibstil bereitet besonders zu Beginn dem Leser einige Mühen. Seine Sätze sind mitunter dermaßen verschachtelt, dass man sie wiederholt lesen muss, um ihren Sinn zu erfassen. Es kommt auch vor, dass in einem Satzgebilde mehrere völlig unzusammenhängende Gedanken miteinander verflochten sind. Doch sollte sich der Leser von derartigen Hürden keinesfalls abschrecken lassen, das Buch dennoch in die Hand nehmen und es lesen. Leselust und Gewinn stellen sich ein, wenn sich der Interessierte an den Stil gewöhnt hat. Dann liest sich das Buch wie andere Bücher auch. Über so manche Sonderbarkeit lässt sich sogar schmunzeln, besonders dann, wenn der Autor Worte oder Sprüche gebraucht, welche aus der Gegenwartssprache völlig entschwunden sind, und er beispielsweise von Lehrern erzählt, die ihre Schüler zu Vertrauten und Konkneipanten machten.

Auf alle Fälle ist im Sinne der Leipziger Musikgeschichtsschreibung der Herausgeberin Doris Mundus und dem Lehmstedt Verlag dafür zu danken, dass Alfred Richters liebenswürdige Erinnerungen endlich als Buch erschienen sind. Dessen spezielle Bedeutung liegt darin, der Stadtgeschichtsforschung als Wegweiser zu dienen und manche Wissenslücke schließen zu helfen, die anders zu schließen nicht möglich ist. Aber das ist es nicht allein. Die Erinnerungen vermögen auch alle diejenigen zu beglücken, für die Leipzigs Musikgeschichte eine Herzensangelegenheit ist.

Einige Äußerlichkeiten der Buchgestaltung könnten allerdings erleichternd wirken, wie ein Verzeichnis für die vielen Abbildungen und eine Inhaltsangabe, die am Anfang des Bandes stände.

Alfred Richter:
Aus Leipzigs musikalischer Glanzzeit.
Erinnerungen eines Musikers.

478 Seiten mit 58 Abbildungen

24,90 Euro
ISBN 3-937146-09-1.

Herausgegeben von Doris Mundus

Leipzig: Lehmstedt Verlag 2004


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