Ein Volksfeind: Antoine Uitdehaag inszeniert Ibsen im Schauspiel Leipzig (Roland Leithäuser)

Henrik Ibsen: Ein Volksfeind
Schauspiel Leipzig, Großes Haus
Premiere am Samstag, den 15. Mai 2004

Regie: Antoine Uitdehaag
Bühne: Achim Römer
Kostüme: Ann Poppel
Darsteller: Michael Schütz, Heidi Ecks, Daniela Holtz, Matthias Hummitzsch, Friedhelm Eberle und andere

Bilder: Rolf Arnold


Zur Lebensdauer durchschnittlicher Wahrheiten

Ein Volksfreund: Antoine Uitdehaag inszeniert Ibsen mit Leichtigkeit und viel Charme

Eine Schauspielpremiere, die neugierig macht: im Programmheft bedankt sich das Schauspiel Leipzig bei einem lokalen Optiker und darüber hinaus beim „Leipziger Zoo für die Fische“. Sind das Requisiten einer neuerlichen Ausbruchs bundesdeutschen, postdramatischen Regietheaters? Womöglich sonnenbebrillte Heilbadeortbewohner, die in wahnhaftem Zustand Goldfische verschlingen? Mitnichten. Antoine Uitdehaags Leipziger Inszenierung des 1883 uraufgeführten „Volksfeinds“ von Henrik Ibsen setzt weder auf Schock noch auf Dekonstruktion – trotzdem vermag es seine Aufführung, den aktuellen Gehalt des politischen Stückes pointiert herauszuarbeiten.

Die Fische, sie schwimmen selig im Aquarium der Familie Stockmann. Kein Leid geschieht ihnen. Dr. Tomas Stockmann, Badearzt in einem norwegischen Kurort und Protagonist des Stückes, hat eine illustre Abendgesellschaft beisammen, in der nur das kurzzeitige Auftreten seines Bruders Peter stört, der, als Bürgermeister und Aufsichtsrat der Heilbadeanstalt, mit den anwesenden Journalisten und Schöngeistern nicht viel anzufangen vermag. In die traute Runde hinein und im Schwange von Tabakrauch und Grog enthüllt der leidenschaftliche, zur Selbstdarstellung neigende Arzt seine neueste Entdeckung. Die Wasserleitungen zum Heilbad der Stadt seien verseucht, der therapeutische Effekt des Badens dahin, schlimmer noch: der Besuch des Bades sei unter Umständen mit gefährlichen Nebenwirkungen für Leib und Leben behaftet. Die Anwesenden horchen auf, Stockmann, exaltiert mit seinem Bericht wedelnd, gibt ganz den Entdecker und sonnt sich in dem Gefühl, die Stadt und den Kurbetrieb durch seine Entdeckung vor schlimmerem bewahrt zu haben. Auch die Journalisten Hovstadt und Billing vom „Volksboten“ sind ganz Ohr und geloben, Stockmanns Bericht abzudrucken, auf dass ein jeder die Botschaft vernehme. Sie treibt indes auch der Wunsch an, die örtlichen Verfilzungen zwischen Politik und Wirtschaft anzuprangern und dem unbeliebten Bürgermeister in die Parade zu fahren. Zunächst noch ermutigt von Presse, Interessengemeinschaften sowie Frau und Tochter, beginnt so die Kohlhaasiade des Arztes. Nachdem der Bruder Peter in die Ergebnisse des Berichts eingeweiht wird und sich unter Verweis auf anfallende Kosten und ausbleibende Besucherzahlen weigert, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, wähnt sich Tomas Stockmann noch in der Rolle des Sozialrevolutionärs, dem es mit Hilfe der Journalisten und des Verlegers Aslaksen gelingen könnte, „die verfluchte, kompakte Majestät“ der Stadt zu stürzen, die korrupten Würdenträger und profitgeilen Honoratioren aus ihren Ämtern zu jagen. Allein, es wird ihm nicht gelingen. Nach und nach bleiben seine Mitstreiter auf der Strecke – teils aus Angst vor ihrer beruflichen Zukunft, teils ob ihrer eigenen Verstrickungen in den örtlichen Klüngel. Stockmann muß tatenlos zusehen, wie sein machtbewusster Bruder die defektierenden Redakteure und Vereinspräsidenten nach und nach wieder auf Kurs bringt. Vom beneideten Aufklärer wird er nun zum „Volksfeind“, dessen Enthüllung die natürliche Ordnung der Stadt bloß gefährdet – in der Folge kündigt man ihm und seinen Nächsten die Stellen, maßregelt ihn öffentlich, erklärt ihn für wirr und schmeißt ihm die Fensterscheiben ein. Ein langer Monolog im vierten Akt des Stückes – von Ibsen als Massenszene konzipiert und in Uitdehaags Inszenierung als zeitgenössische „Publikumsbeschimpfung“ an die Zuschauer im Großen Haus gerichtet – zeugt von der Ausweglosigkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Situation Stockmanns. Hier räsoniert er über die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft, das kurze Verfallsdatum von Wahrheiten und die Korrumpierbarkeit der scheinbar unbestechlichen Eliten.
Zusammengesunken verschließen sich ihm und seiner Familie zuletzt alle Auswege, auch eine Flucht in die USA wird unmöglich. Erschöpft sinkt Tomas Stockmann im zerschmetterten Aquarium in sich zusammen.

Der „Aufstand der Anständigen“ bleibt in Ibsens Stück aus, die Leipziger Inszenierung versucht dankenswerterweise nicht, diesen Bestandteil des Stückes umzuschreiben. Auf eindrucksvolle Weise gelingt es Regie und Akteuren an diesem Abend im Leipziger Schauspielhaus, die politische und gesellschaftliche Aktualität von Ibsens Stück zu transformieren, ohne sich Themen des Zeitgeistes anbiedern zu müssen. Die von Achim Römer als Drehbühne gestaltete Kulisse mutet einfach und praktisch zugleich an, modern und doch zeitlos; einmal als Wohnzimmer, dann wieder als kahle Amtsstube verdeutlicht sie die wesentlichen Austragungsorte des modernen (klein-)bürgerlichen Lebens. Es braucht die Akteure, diesen Räumen Leben einzuhauchen, was von wenigen Ausnahmen abgesehen, eindringlich und gut gelingt. Im Kontrast zum kühl-modernen Ambiente der Bühne sind sämtliche Charaktere in klassische Dreireiher und Kleider (Kostüme: Ann Poppel) gewandet, die den Chic des fin de si?cle mitunter etwas überbetonen.

Unter den Hüllen lebt es allerdings ganz unverstaubt: Michael Schütz gibt eindrucksvoll, nuanciert und zum Ende hin rasend den Dr. Tomas Stockmann. Seine Pose, sein stimmgewaltiges Organ und seine Selbstverliebtheit drücken in jeder Szene, jedem Akt den scheiternden Aufwiegler aus, der er bei aller Selbstverliebtheit in seinem Kern sein soll. Der Bruder und Bürgermeister Peter wird von Matthias Hummitzsch als gemütlicher, im Kern aber durchtriebener Autokrat verkörpert, den nichts aus der Ruhe zu bringen scheint. Die hinreißende Heidi Ecks als Tomas‘ Frau und Daniela Holtz als bisweilen etwas zu stimmlose Tochter Petra sind im Stück weit mehr als nur Beiwerk zum gerechten Zorn des Badearztes: sie leiden mit und treiben ihn an, zweifeln entzückend und rahmen ihn schlussendlich in seinem ganzen Elend vollendet ein. Ähnliches gilt für die Journalisten Billing (Stefan Kaminsky) und Hovstadt, wobei vor allem Marco Albrecht als Redakteur Hovstadt durch Mimik und lässige Arroganz nicht unwesentlich zur humorvollen Gestaltung des Abends beiträgt. Seine Rolle gehört zu den tragenden in Ibsens Drama und wird hier ganz ungekünstelt, aber mit viel Leichtigkeit und Hingabe an den Charakter gespielt.

Insgesamt verzeichnet Uitdehaags „Volksfeind“ keinen nennenswerten Ausfall – im Gegenteil zeigt sich die Mehrzahl der Akteure auf der Höhe des Stücks und durchaus darum bemüht, der etwas angestrengt wirkenden gesellschaftskritischen Fabel des Stückes auch den ein oder anderen humoresken Aspekt abzugewinnen. Trotzdem gerät die Inszenierung niemals in Gefahr, trotz ihres Sujets und der allzumenschlichen Klientel in die Untiefen des Boulevardtheaters abzudriften. Keine Transparente, keine Parolen! Der Leipziger „Volksfeind“ vermittelt seine Intention auf weitaus subtilere Art und Weise. Tosende Ovationen, vereinzelt stehend.

(Roland Leithäuser)

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