Alle Jahre wieder! Das „westend 04” präsentiert zeitgenössischen Tanz (Stefanie Möller)

„westend 04“ – Festival für zeitgenössischen Tanz
Schaubühne Lindenfels
13. – 16. Mai 2004

Stricken für die Reflexion

Nachlese zum „westend 04“

Neiiin – Lass es nicht vorbei sein!!! Plötzlich ist die Bühne schwarz und stumm. Fassungsloser Atemstillstand: Jetzt schon zu Ende? Heike Hennigs „Estha“ erhört das Flehen, die schemenhaft weißen Tänzerleiber richten sich wieder auf, tanzen endlich weiter um Maschine, Macht und Material – bis zum wahrhaft abgedrehten Schluss. Und danach war auch Schluss mit „westend 04“ und Zeitgenössischem Tanz. Seit einer Woche sind wir wieder ohne.

Der Entzug ist ja nach jedem Festival schwer auszuhalten und war in diesem Fall nicht eigentlich erwartet. Denn so gut und schön wie bei Hennig sah man die Körper nicht häufig während der 10 Tanztage von Schaubühne und Lofft. Etwa noch bei Martine Pisani oder Paula E. Paul, die mit Grips aber eben auch mit tänzerischer Ästhetik überzeugten. Manches war anders. Exemplarisch sei „Powered by Emotions“ genannt, denn die Performance entsprach ganz dem Konzept von Kuratorin Heike Albrecht: Anders gucken, andres sehen.

Marten Spangberg versuchte erst gar nicht, „gut“ zu tanzen; kalkuliert unbeholfen und emotionslos lief er eine Improvisation von Steve Paxton zu den von Glenn Gould emotionsüberschießend vorgetragenen Goldberg-Variationen ab, sang zum einigermaßen gefühligen Buena Vista Social Club den Text vom Blatt, verneigte sich und entschwand. Wie oft erfahren hier die (sehr interessierten) Zuschauer erst in den (immer gut besuchten, engagierten) Künstlergesprächen und Diskussionen, was da eigentlich auf der Bühne vorgeht. Spangberg etwa interessiert nicht der Tanz, der aus dem Gefühl kommt, sondern die Frage, ob „halbgut“ nachgemachtes Gefühl, die holprige Kopie eines Ausdrucks neue Bedeutung erzeugen können in unserer gefühlsduseligen Popkultur. Ziehmlich verkopfte Sache.

Auch bei Friederike Plafkis „Kühlkuhgenese“ folgen, ganz anders zwar, Emotion und Entwicklung der Bewegung, nicht umgekehrt und nicht gemeinsam. Aber ihre Bewegungen sind die einer Körperkünstlerin. „Keine überlfüssigen Wörter“, hört man und guckt gebannt den an Perfektion reichenden Contact-Studien hinterher. Aber auch hier muss ein Zufall die Bewegung erst anstoßen. Dass wir schon immer bewegte Körper und Seelen sein könnten, die zum Stillhalten gezwungen werden, scheint vielen Choreographen keine Notiz mehr wert. Als komme der Tanz vor allem aus dem Kopf oder von etwas da draußen (der Foucaultschen Macht), stehen oder sitzen die Figuren oft erst mal eine Weile herum und warten auf irgendeinen Anlass, sich zu rühren.
Das gibt viele Rätsel auf und um die geht es Heike Albrecht. Sie will unsere überkommenen Vorstellungen von Tanz als bloße rhythmische Bewegung aufrütteln. Sie und ihre „Exponate“ stehen damit in der Tradition des Konzepttanzes, der in den 60er Jahren von einer Gruppe um Yvonne Rainer und Steve Paxton ausging und die manierierten, elegischen Bewegungen des klassischen Ballett als lebensfern und unnatürlich enttarnte. Heute komme diese Entwicklung zwar erst allmählich im europäischen Bewusstsein an, sei aber selbst schon wieder an eine Grenze gelangt. „Alle Bewegungsmöglichkeiten sind erforscht, der Spielraum ist ausgeschöpft“, sagt Heike Albrecht, und fragt: „Wie geht es jetzt weiter?“ Ihr Vorschlag, dass es nicht mehr um den Erfindungsreichtum in Bewegung sondern um den Gedanken der Bewegung gehen müsse, spiegelt sich, in Anlehnung an bekannte neuere Namen wie Xavier Le Roy und Gerome Bel, im Festival. Es geht mithin vor allem um Selbstbefragung: Wie lässt sich heute Bedeutung mit den Mitteln des Körpers erzeugen, ohne zu wiederholen und wer ist eigentlich der Autor von Bewegung und Emotion, wo Nachahmung unausweichlich ist?

Wenn sich der Zuschauer vorher nicht mit Wissen über die kulturelle Tradition um Tanz und Körper ausgestattet hat, bleibt ihm also vieles kryptisch. Und dass die quirlige Kuratorin dieses „kulturelle Bewusstsein“ von den Besuchern einfach „einfordert“, mag man mit ihrer überbordenden Begeisterung für ihr Fach entschuldigen. Von einer gewissen Ignoranz gegenüber den Normalos, deren stahlgrauer, zeitraubender, automatisierter, ökonomisch bedrängter, unauthentischer, kurz: hochproblematischer Alltag (vor dem manche noch glauben, ins Theater entfliehen zu können) das Festival so gerne zum Thema machte, zeugt es schon. Und warum unsere Vorstellung von „schönem Tanz“ dermaßen hart auf die Probe gestellt werden musste, wie mit Antonia Beahrs „Un apr?s-midi # 6“, das beinahe vollständig still stand, haben wohl nur die Queers verstanden.

Sehr anders das ebenfalls exemplarische „Directory“ der kürzlich nach Leipzig übersiedelten Frankfurter Küche. Hier ist auch viel gedacht und getextet worden. Aber es sind offensichtlich Tänzer am Werk, die sahen, dass sie zu anderen Mitteln greifen müssen, um von der Konstruktion des Linearen zu erzählen: Stricken für die Reflexion. Das sieht nicht schön aus und man ächzt unter dem zahllos wiederholten Zurückspulen der immer gleichen Bewegung. Das theoretische Konzept ist (wie bei Spangberg) sehr voraussetzungsvoll, aber die Bilder, verdammt, warum lassen einen die Bilder nicht los?

Fragen über Fragen. Westend 04 war schweres Gedankengerät, Extra-Halb-Gutes, hintergründiger Witz, Unbegreifliches, auch Misslungenes, und, wen wundert’s in Leipzig, toller tollkühner Tanz. Innerhalb der neueren Entwicklung des Zeitgenössischen Tanzes hat Kuratorin Heike Albrecht mutige, nachdenkliche Fragen gestellt, die auf den Zusammenhang von künstlerischer Form und aktuellen Lebensumständen verweisen. Wunderbar die forschenden Körper vor den schaurig-schön ausgeleuchteten Blätterfresken der Schaubühne; wie geschaffen … . Jetzt schon eine Woche ohne – von vielen. Und das ist am schwersten zu begreifen.

(Stefanie Möller)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.