Agnes und seine Brüder
D 2004, 115 Min
Regie und Buch: Oskar Roehler
Darsteller: Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup, Martin Weiß, Katja Riemann, Tom Schilling
Kinostart: 14. Oktober 2004
(Bilder: X-Verleih. Unten: Oskar Roehler)
Deutscher Almodóvar?
Ambivalentes zum neuen Film von Oskar Roehler
Es vibriert. Ein Handy klingelt dazu. Man zuckt in Richtung Tasche und merkt noch rechtzeitig, dass die Vibration von der Leinwand kommt. Ein Sinneseindruck, der so unmittelbar erscheint wie der Film selbst. In dieser Unmittelbarkeit, um gleich zum Kern zu kommen, liegt die große Stärke von Roehlers Filmen – und die große Schwäche. Sehr persönlich, um das Wort autobiografisch zu umgehen, sind die Stoffe. In ihrer Gestaltung wirkt Roehler nicht wie ein omnipotenter Erzähler, der seine Figuren an langen Fäden dirigiert, sondern als wäre er selbst eine Figur mittendrin im Spiel der (etwas zugespitzten) ungeheuren Realität. Er selbst ein Fragender, mit der Analyse der aufgezeigten Familienpathologie überfordert. Oskar Roehler nähert sich seinen Themen weniger rational als mit Vehemenz und feinfühlender Besessenheit. Seine Fähigkeit liegt darin, Monstrositäten vor die Kamera zu bringen mit Hilfe eines unsichtbaren Drahtes zu den Darstellern, mit denen er Grenzen antastet und überschreitet. In Agnes und seine Brüder wird man halb freiwillig, halb unfreiwillig zum Voyeur in einer Geschichte um drei sehr unterschiedliche Brüder, die alle auf eigene Weise einen Schaden davon getragen haben. Ein notgeiler Bibliothekar (überzeugend dargestellt von Moritz Bleibtreu), der täglich von einem Großaufgebot von Minirockträgerinnen umwimmelt wird – eine Szene übrigens, die bei gespürten 10 Minuten 9min 55 sec. zu lang erscheint. Ein arrivierter Grünenpolitiker mit Analstörung (Herbert Knaup), der zur Erziehung der Menschheit an der Einführung des Dosenpfandes arbeitet und selbst nicht einmal Mülltrennung praktiziert. Und der jüngste Bruder Martin (als Neuentdeckung Martin Weiß), der womöglich auf Spuren seiner schleierhaften Mutter das Geschlecht wechselte und nun Agnes heißt.
Derjenige, auf den scheinbar alle Übel zurück zu führen wären, wenn die Analyse so weit erfolgen würde, nämlich der Vater der drei, lebt in einer merkwürdigen Art-Deco-Villa verschanzt, mit Hunden, Waffen und einem depressiven Diener. Missbrauch, Alkohol, Vertrauensbrüche und unaussprechliche Dinge aus der Vergangenheit liegen in der Luft ohne fassbar zu werden. Man wird in den Bann der Geschichte gezogen, bekommt gnadenlos eine zerrüttete bürgerliche Ehe vorgeführt, in der die normalste Sache der Welt, eine Berührung zwischen den Ehepartnern so fern liegt wie ein anderer Stern. Eine deutsche Ehe-Realität, öfter jedenfalls als die Fernsehfamilien aus der heileren Welt. Mit Katja Riemann ist die Rolle der Entspannungskassetten hörenden Ehefrau ideal besetzt.
Die transsexuelle Agnes lebt mit einem Plakativproll zusammen, der pöbelt, Bier trinkt und von seiner Lebensabschnittspartnerin natürlich warmes Essen erwartet. Was bei Der bewegte Mann noch lustig wirkt, erscheint hier unerträglich überspannt, wie auch einige andere Szenen, die die komische Komponente des Filmes unterstreichen sollen. Z.B. ein Telefonat mit Joschka (Fischer), währenddem der Karrierebruder die Hosen runterlässt, um seinen Darm zu entleeren. Und der dabei auch noch vom eigenen Sohn und besten Konkurrenten mit der Videokamera beobachtet wird. Komisch bis peinlich, auf dieser Grenze bewegt sich die Empfindung beim Zuschauer. Menschliche und damit gesellschaftliche Abgründe auf möglichst leichte Weise darzustellen, war intendiert. Neben gelungenen, rührenden oder ernsthaft komischen Momenten findet sich aber sehr viel Gewolltes. Wie auch schon am Vorgängerfilm werden sich an Agnes und seine Brüder die Geister spalten, nicht nur in Befürworter und Abgeschreckte, sondern möglicherweise sogar jeder Zuschauer noch einmal in sich selbst. Der Alte Affe Angst kreiste ebenfalls um das Thema der sexuellen Energien und ihren Ausuferungen. Dort wirkten die seelischen, körperlichen und damit ethischen Grenzüberschreitungen der Protagonisten kathartisch. Der Zuschauer wird mit Filmblut gereinigt. An diese Leistung reicht Agnes und seine Brüder nicht heran. Leider ist das Überdrehte hier eine Spur zu überdreht. Die Unebenheiten, die den einen Film menschlich erscheinen lassen, erwecken im anderen Film mitunter den Eindruck von fehlender Perfektion. So irritieren beispielsweise die ungleichen Drehorte, obwohl die Brüder an einem Ort zu leben scheinen. Dies nur ein kleines Detail als Beispiel für inhaltliche Unklarheiten, die von Film zu Film und mit einem Quäntchen mehr Abstand des Regisseurs zu seinen Geschichten klarer werden könnten. Denn eines steht bei aller Krittelei fest: Mit Oskar Roehler ist die deutsche Filmszene um einen mutigen, ungewöhnlichen Regisseur bereichert, der sich der Erzählnotwendigkeit so sicher/unsicher ist, wie es die beste Grundlage für ein künstlerisches Schaffen bietet. Eine neue Stimme, ein deutscher Almodóvar? Der neueste Film des spanischen Enfant terrible erscheint in Deutschland zeitgleich mit Agnes und seine Brüder und weist zufällig auch noch inhaltliche Parallelen auf. Eine Konkurrenz, die es auszuhalten gilt. In jedem Fall: Oskar Roehler nimmt jenseits des Mainstreams seinen Weg über viele Unebenheiten. Er ist auf dem Weg, es enerviert, es vibriert und das zählt. (Anna Kaleri)
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