Richtig hingucken

Robert Walsers Erzählung „Einer, der nichts merkte“ wurde mit aufwändigen Suchegrafiken für Kinder illustriert

Da tappt ein langer Mensch durch die Bilder, ein Mann, Herr Binggeli. Er kriegt nichts mit, völlig kopflos verliert er sogar seinen Kopf. Selbst, als ihn jemand darauf anspricht, reagiert er nicht, denn ohne Kopf fehlen ihm ja die Ohren. Am Ende der Geschichte fragt Robert Walser seine Leser und Leserinnen: „Glaubst du das?“ Das muss wohl jeder für sich selbst beantworten….

So befremdend und beinahe gruselig die Geschichte auch wirkt, sie kommt mir erschreckend wahr vor. Man braucht nur bei seinen alltäglichen Verrichtungen durch die Straßen zu gehen und rempelt mit Kopflosen zusammen oder ist selbst mit den Gedanken völlig woanders. Ob es nun an der viel zitierten Reizüberflutung liegt, dass dieser langnasige, rundäugige Herr Binggeli nichts mitkriegt, oder ob er einfach ganz gedankenversunken oder gar völlig gedankenlos und leer ist, wie der Text nahe legt, ist für die Geschichte nicht von allzu großem Belang. Wichtig, und vor allem wichtig für die Kinder, die die Bilder betrachten, sind all die kleinen und frechen Dinge, die dem Kopflosen entgehen. Da wirken die Motive dieser surreal anmutenden Geschichte wie Suchebilder und entwickeln Parallelhandlungen, die im Text gar nicht erwähnt werden. Als ein Beispiel dafür sei Binggelis Frau genannt. Auf einem Bild sieht man sie telefonieren, etwas später fährt sie mit einem verwegen wirkenden Motorradfahrer durch die Lande.

Der Text ist Teil des Prosatextes „Lampe, Papier und Handschuh“ aus dem Band „Der Spaziergang“ (Suhrkamp) von Robert Walser. Der Schweizer Autor beweist auch hier, dass er ein Meister der literarischen Kleinform ist. Er schuf rund 2000 Miniaturen und Kurzprosatexte im impressionistischen Stil, die ein wichtiges Bindeglied zur Moderne darstellen. Als weitere literarische Anspielung wird in dem Kinderbuch sein Band „Für die Katz“ genannt, dieser Katz ist auch das Buch gewidmet. Und wenn man sich die Bilder genau anschaut, und das können Kinder besonders gut, so versteckt sich häufig eine Katze darin.

Die detailreichen Suchebilder schuf Käthi Bhend mit der aufwändigen Original-Flachdruck-Grafik. Bei dieser Drucktechnik wird der Strich der Künstlerin ohne Verlust auf die Druckplatte übertragen. Die Druckmaschine ist also im Grunde das Medium, mit dem gezeichnet und gemalt wird. Und somit ist jeder einzelne Druck ein Original, das erst im Buch entsteht. Dabei sind neben zarten Linien auch schillernde Schattierungen und Farbnuancen möglich, die der konventionelle Vierfarbdruck nicht hervorbringen könnte. Die Illustrationen wirken teilweise wie hingehaucht in ihrem zarten Strich, dann wieder kraftvoll, bunt und voller Details.

Zurecht erhielt dieses Buch die Nominierung zum Deutschen Jugendliteraturpreis, doch es ist mehr als ein nettes Kinderbuch: Es ist eben auch ein Buch für Erwachsene. Ein schönes Geschenk für Kopflose mit einem Augenzwinkern: „Hallo, guck mal richtig hin!“

Einer, der nichts merkte
Robert Walser, Text
Käthi Bhend, Illustration
32 Seiten, gebunden, farbig in Original-Flachdruck-Grafik illustriert
Atlantis Verlag 2003, 18 Euro
ab 6 Jahren

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