Wiedergelesen: „Die Klavierspielerin” von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (Madeleine Rau)

Die Klavierspielerin
Roman von Elfriede Jelinek
Rowohlt, Reinbek 1983

Bild: Rowohlt (andere Ausgabe)


Gewaltsame gewaltige Sprache

Sie schläft mit dem Muttertier in einem Bett. Männer gehören zur verbotenen Zone. Ihre Kleidung darf sie nicht selbst bestimmen. Sie muss pünktlich nach Hause kommen, denn die Übermutter wartet drohend mit dem Essen.

Erika Kohut, Dreh- und Angelpunkt in Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin, ist 36 und zum Ersticken in die krankhafte Beziehung zu ihrer Mutter eingeschnürt. Kein Entkommen, keine Widerrede, kein Verhandeln. Minutiös beschreibt die österreichische Autorin den skurrilen Alltag der beiden Frauen. Erikas Gehalt wird herrisch von der Mutter verwaltet und eisern für die gemeinsame Eigentumswohnung zurückgelegt. So spart sich die Tochter vom Straßenbahngeld ein Eis ab oder kauft waghalsig ein modernes Kleid, das sie dann doch nicht trägt. Die Mutter wiederum wacht wie ein Spion über jeden Schritt der Tochter. Kontrolle im Extrem. Verstößt das Kind gegen Vorschriften, folgen harte Strafen. Kleidungsstücke werden mutwillig von der Mutter zerschnitten und bei Handgemengen reißen sich die Frauen gegenseitig ganze Haarbüschel aus der Kopfhaut.

Jelineks Sprache ist gewaltig. Jedes Wort findet gezielt Platz in den bilderbuchartigen Sätzen. Termini aus der Musikwissenschaft betten die Handlung klanghaft ein. Jelinek selbst studierte Orgel und Blockflöte am Wiener Konservatorium. Dort, wo auch die Protagonistin im Roman als Klavierlehrerin arbeitet. Ausgeklügelte Formulierungen und Neuschöpfungen weben ein Netz, das den Leser mit jeder Seite mehr umspinnt und schließlich ganz festhält, so sehr wie die perfide Mutter die Tochter im Griff hat.

Erika entwickelt neben diesem symbiotisch-tödlichen Leben ein zweites geheimes Dasein. Sie lauert nachts in Parks Paaren auf, um ihnen beim Liebesspiel zuzuschauen, besucht Sexkinos und Peep-Shows. Körperliche Liebe heißt für sie Gewalt, Selbstverstümmelung und Bestrafung. Als einer ihrer Schüler, der wesentlich jüngere Walter Klemmer, sie mit Schmeicheleien umgarnt, fallen Erikas Phantasien auf fruchtbaren Boden. Ein Machtspiel um Unterdrückung, Lust und sexuelle Abhängigkeit beginnt.

Zeile um Zeile gräbt Jelinek immer tiefer in menschlichen Abgründen, so dass das Weiterlesen ein Widerstreit von Neugier und Ekel, ja fast Angst vor der nächsten Seite wird, weil kaum auszumalen ist, wie weit dieses Spiel geht und vor allem wo es kulminiert. Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin schockiert und bleibt im Literaturgedächtnis haften. Schließlich möchte niemand den Romanfiguren in der eigenen Realität begegnen und ahnt doch deren Existenz. Die Autorin wurde bereits mit zahlreichen Preisen für ihren unverwechselbaren Stil ausgezeichnet. Im Dezember 2004 erhielt sie in Stockholm den Nobelpreis für Literatur, eine der höchsten Auszeichnungen dieser Art.

(Madeleine Rau)

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