Mit geschlossenen Augen

Das ensemble amarcord singt im dritten Konzert des Projekts zu Josquin des Préz

„Und wie befreit durch das Grundvertrauen, das jene beharrlich ausgehaltene Silbe – Allegorie der ewigen Dauer – den Sängern einflößte, errichteten andere Stimmen … auf diesem festen Felsengrunde nun Säulen, Giebel und Zinnen aus liqueszierenden und subpunktierten Neumen.“ Adson von Melks mystisches Glücksgefühl wäre bei der Sequenz Victimae paschali laudes an diesem Abend nicht geringer gewesen als beim Hören des Graduale in der Benediktinerabtei, in die ihn Umberto Eco schickte. Und mit geschlossenen Augen genoss ich die Liebe, mit der das ensemble amarcord seine Klänge hervorbringt, nicht weniger als von Melks die kurzzeitige Harmonie in einer zerrütteten Zeit.

Es fiel nicht schwer vor der Kulisse schwach beleuchteter Augenlider einen lebendigen Eindruck des damaligen Umfeldes entstehen zu lassen, geführt zu werden durch den kanonischen Gang einer Ostermesse zwischen gregorianischer Liturgie und Vertonungen der Spätrenaissance, hervorragend miteinander verschränkt: Im Introitus, dem Eingangsgesang, die im kleinen Kirchenraum leicht nachhallenden Schritte einer imaginären Prozession, in der Bitte um Erbarmen, dem Kyrie eleison der Missa Pascale von Pierre de la Rue, die Wiederkehr des Introitus als Motiv. Auf des Préz‘ Gloria, dessen festgelegter Text um Verse der Marienverehrung erweitert wurde, folgt eine der vielen Verarbeitungen des gregorianischen Marienantiphons für die Osterzeit, Regina laeti, von Antoine Brumel; diesen beiden Kompositionen wiederum nachfolgend sind Graduale und Alleluia, deren beide Texte Haec dies und Pascha nostrum die Opferung von Marias Sohn preisen.

Konzeptionelle Schönheit zeigt sich in diesem Programm, Formstrenge liturgischer Tradition wurde mit thematischen Schwerpunkten versehen: Ob in der Gegenüberstellung der eingangs erwähnten Sequenz mit des Préz‘ gleichnamiger Mottete, in der er die gregorianische Melodie mit Chansons von Ockeghem und Ghizeghem überlagert, oder in einer erneuten Zusammenstellung von Marienverehrung und Freude über den geopferten Christus am Ende der Messe durch des Préz‘ Regina caeli und die ursprüngliche Oster-Communio, Pascha nostrum – ein konzeptioneller Duktus irgendwo zwischen wissenschaftlich-thematisch und ästhetisch-architektonisch ist klar erkennbar.

Gemäß der Selbstbeschreibung des Projektvereins folgt dieses Konzert vor allem dem Themenbereich „Biographische ‚Stationen'“ und befasst sich mit dem frühen Werk und Umfeld Josquins. Sämtliche Komponisten stammen aus Nordfrankreich und Flandern, einem zentralen Orientierungspunkt der Kunstausübung in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, alle waren in hohen kirchlichen und fürstlichen musikbezogenen Ämtern tätig. So war Pierre de la Rue habsburgisch-burgundischer Hofkomponist unter Maximilian I., später wirkte er bei Margarete von Österreich, wo der Überschneidungspunkt mit des Préz liegt; Ockeghem erlangte in fünfzig Jahren als Kapellmeister des französischen Hofes und als Kanoniker von Notre Dame die Stellung als wichtigster Komponist seiner Zeit; im selben königlichen Kreis wirkte auch, einige Zeit später, Jean Mouton, wie wahrscheinlich auch des Préz selbst.

Durch ihre überwältigende Stimmklarheit und die innere Homogenität der Stimmfarben ermöglichen die Mitglieder von amarcord über diese äußerlichen Überschneidungen hinaus eine musikalische Sprache dieser Zeit zu erkennen und doch Eigenarten der Wortführung festzustellen. Denn sieht man die mehrschichtige Vielstimmigkeit und die komplizierte imitatorische Stimmführung als Verbindungslinien, ergibt sich aus dieser Zusammenstellung ein reizvoller Rahmen, in dem sich durch ein unterschiedlichen Maß an Vergeistigung Stileigenheiten entdecken lassen.

So ist das Credo von Ockeghem durch die fast monoton durchgehaltene Mittelstimme, die den Text wie eine fest gebaute Brücke trägt, und die sie umspielenden, leicht auf und ab fließenden Außenstimmen bildlich erfassbar. Aber die Art der Stimmführung, die Ligeti einmal als sich aufhebende Bewegungen beschrieb, geben dem Gesamtklang eine kontemplative Statik, die unweigerlich auf den Text verweist. Und selbst bei höherem emotionellen Reiz, wie etwa der Missa prolacionum, der das Sanctus entnommen wurde, ist der innere Aufbau aus zwei unabhängig voneinander durchgeführten Themen letztlich auf stark vergeistigten Prinzipien aufgebaut. Welch Unterschied zu den fast dramatischen Kontrasten, die des Préz etwa im Gloria de beata virgine gestaltet – die stillen, warmen Akkorde der eingeschobenen Anrufungen Marias und die kraftvoll aufgeschichteten Tonlinien, die mit Qui tollis peccata mundi die Macht Gottes beschwören. Dies in abgeklärter Ruhe betrachten zu können, ist ein Geschenk.

Damit gab es noch einen weiteren Grund, die Augen zu schließen: die Illusion der unverbrüchlichen Harmonie. Ich überlege, ob amarcord sich der Zweischneidigkeit ihres Namens bewusst sind, da ähnlich des Wortes sacer, das zugleich heilig und verflucht bedeutet, die scheinbaren Gegensätze amare (lieben) und amarus (widerwärtig, verletzend) nah beieinander liegen. Doch diese etymologische Spitzfindigkeit führt nur zu einer weiteren Scheinbarkeit dieses Konzerterlebnisses, das den Augen beständig Aufmachen und Zudrücken abverlangt und damit die Kreise geweißter Harmonie stört: Der aus Gewohnheit unbeachtete Bettler, der vor dem Eingang kniet, während innen das weichgezeichnete Elend des gesalbten Märtyrers bestaunt wird. Aus Säulenköpfen sprießende Palmenblätter, die das demütige Kyrie eleison überwuchern, in einer klassizistisch gestalteten Kirche als Abzeichen bürgerlichen Selbstbewusstseins, das den stolzen Worten „DER sagte: ‚Selig die Armen‘!“ einen spezifischen Beigeschmack gibt. Zutiefst überwältigende Trauer in des Préz‘ La déploration, deren breiter Klangfluss vorbeifließt an marmorisiert-glatten Säulen, vorbeigeht an den biederen Miniaturen von Straßenlampen an der Empore. Goldüberzuckerte Ornamentik über den Köpfen von in schwarze Bescheidenheit gekleideten Sängern, deren Verzierungen mit klarer, unverschnörkelter Stimme erklingen. Die angenehm informierende Konzertbeilage und das verunsicherte Schweigen nach dem Konzert, schwankend zwischen zwei Konventionen: andächtiges Schweigen oder begeisterter Beifall.

Und schließlich der Balanceakt des Ansagers, der versucht, das Publikum auf eine Messe einzustimmen und daran Fragen der Konzertlogistik knüpft – „dies ist trotzdem ein Konzert“. Ist es das? Ein Lächeln in vielen Gesichtern begleitet seine Worte. Worin bestand der Unterschied zur römisch-katholischen Messe, die 17 Uhr des gleichen Tages am gleichen Ort stattfand – im Ernstnehmen der Texte, in einer rein ästhetischen Dimension der Wahrnehmung, im erläuternden Beitext? Ist es dieselbe ungewisse Frage, die über dem seltsamen Gemisch aus Gottesdienstbesuchern, unwilligen Staatsbürgern und DDR-Trägern schwebte im Gestühl der Nikolaikirche im entscheidungsfreudigen Jahr 1989 – wer hat hier wem was zu sagen? Letztlich ist es dieses seltsame Schwanken zwischen Lebensräumen, die Ungewissheit des Hingehörens im Gefolge widersprüchlicher Entwürfe – ein Reiz, der bedenkenswert ist und dem man kurzzeitig entgeht, mit geschlossenen Augen.(Enrico Ille)

Josquin des Préz (um 1450/55 – 1521)Gloria de Beata virgine (einzeln überlieferter Gloria-Satz mit dem Tropus „Spiritus et alme“; New Josquin Edition 13.7)
Victimae paschali laudes (Ostersequenz, um 1480; NJE 22.6)
O bone et dulcissime Jesu (zweiteilige vierstimmige Motette; NJE 21.9)
Regina caeli (zweiteilige vierstimmige Motette; NJE 25.2 – Echtheit angezweifelt)
La déploration sur la mort de Jehan Ockeghem (fünfstimmiger Trauergesang auf den Tod von Johannes Ockeghem; NJE 29.18)
Gregorianische Liturgie, Werke von Pierre de la Rue (1460-1518), Antoine Brumel (um 1460-um 1520), Johannes Ockeghem (um 1410-1497) und Jean Mouton (1458-1522)

ensemble amarcord

Josquin – Herkunft, Jugend und musikalische Wurzeln

Josquin – Das Projekt, 3. Projektkonzert

27. März 2005, Nikolaikirche Leipzig,

www.josquin-projekt.de

Foto: Rolf Arnold

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