Europäisches Allerlei: Impressionen von der euro-scene 2005 (Steffen Kühn)

euro-scene 2005: „Wahlverwandtschaften“
Festival zeitgenössigen europäischen Theaters

Europäisches Allerlei in Leipzig

Fragen nach der künstlerischem Konzeption der euro-scene sind in den letzen Jahren immer lauter geworden. Ein Europäisches Theaterfestival muss mehr sein als alljährlich interessante Produktionen einzusammeln. Es kann ein Lackmustest aktueller Tendenzen sein oder selbst innovative Entwicklungen anstoßen. Wenn das nicht gelingt, ist der internationale Anspruch nicht zu halten. Wenn man die (Nicht-)Beachtung in den überregionalen Feuilletons der euro-scene beobachtet, muss man leider konstatieren, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine Lücke klafft. Nur zaghaft werden die sechs Tage Europäischen Theaters in den letzten Jahren überregional wahrgenommen. Die Mischung aus in Westeuropa etablierten „Wilden“, die meist Auftakt- und Abschlussveranstaltungen bestreiten dürfen, mit noch unbekannten Compagnies schafft es nicht, innovative Akzente zu setzen. Die Vielfalt der künstlerischen Ansätze, die Verschiedenheit der kulturellen Herkünfte in Kombination mit völlig unterschiedlichen Themen hinterlassen keinen thematisch prägnanten Eindruck von der
euro-scene 2005, wie die folgenden fünf Erlebnisse zeigen:

6. 11. 05: „Das beste deutsche Tanzsolo“, Schauspielhaus
Nachdem man sich die 12 Finalisten angesehen hat, folgt spannendes Warten auf die Juryentscheidung. Jeder hat selbst eine Stimme bei der Wahl des Publikumspreises. Man möchte natürlich wissen, wie man so liegt mit seinem Urteil. Diesmal wird die Wartezeit mit drei Preisträgern aus vorangegangenen Wettbewerben verkürzt (eine Zugabe zum Fünfzehntem Geburtstag der euro-scene), zwei davon enttäuschend. Keine gute Vorahnung! Und dann, na immerhin schafft es die fabelhafte Zufit Simon mit „fleischlos“ auf den dritten Platz. Ein wunderbares Stück, hochkonzentriert auf einer sehr abstrakt körperlichen Ebene – das Stück des Abends.
Im Finale des Tanzsolos diesmal sehr viele Stücke mit pseudopantomimischen- und akrobatischen Ansätzen. Was bewegt die Jury bei der Auswahl von vor Dekoration strotzenden Stücken wie „Die Tiefe der Gefühle“? Idee und Konzeption des Tanzsolos stammen von Alain Platel, 1998 wanderte es von Gent nach Leipzig und ist seitdem ein selbstlaufender Publikumsmagnet.


6. 11. 05: „fever“, Schauspielhaus
„Viele Künstler verstecken sich doch nur hinter ihrer Kunst, das interessiert mich nicht“, so Nigel Charnock beim äußerst unterhaltsamen Publikumsgespräch nach der Aufführung von „fever“. Einige Fragen nach Nigels Aktionen kann Michael Riessler, der die Musik erschaffen und aufgeführt hat, gar nicht beantworten. Unabhängig improvisieren die Beiden auf einer 1998 erdachten Struktur um Shakespeares Sonette, zum Teil so autonom voneinander, dass sich die Aktionen des Anderen im Detail verwischen. Die Musik für das Virus Streichquartett ist im groben Ablauf notiert, Riessler variiert durch Improvisationen auf Saxophon und Klarinetten die Binnenstruktur der einzelnen Teile. Er reagiert auf den rasenden und wütenden Charnock oder treibt selbst das Stück voran. Und nun zu Charnock: „Eine Art Klaus Kinski der Bewegung“, Bettina Schulte/Badische Zeitung 2003; „Der Mann ist wirklich…….ein Elementarereignis, das über das Publikum geradezu hereinbricht“, Horts Koegler/Stuttgarter Zeitung 2001. Vor Nigel Charnock ist nichts sicher, alles und alle werden in seiner Performance integriert. Das Publikum wird mit einer Sofortbildkamera abgelichtet, eine zufällig zwischen den Sitzreihen aufgelesene Tüte wird genüsslich unter die Lupe genommen, darin eine abgeknickte Rose: wie passend. Charnock agiert in einer verschwenderischen physischen Konzentration, die auch die Stimme mit einbezieht: „Mein Denken Tollheit und mein Reden wirr, Ich red nur krauses Zeug, kein wahres Wort.“ Sonett Nr. 147. Fetzen von aktuellen Bezügen „Is Angela here?“ vermischen sich mit dem hochverdichteten 300 Jahre alten Texten. Dann steckt das Mikrophon im Mund und vervielfacht durch die Atmengeräusche die physische Präsenz. Auch Riesslers Musik ist raumgreifend, die elektronisch verstärkten Streichinstrumente erinnern an frühe Produktionen des Kronos Quartett. Drückende, scharrende Gebilde, die durch ihre Körperlichkeit unmittelbar etwas mit dem Tanz zu tun haben. Grenzen gehen verloren, wenn die Musik tanzt und der Tänzer mit den Geräuschen aus den Bewegungen, den Misshandlungen zufällig aufgelesener Gegenstände und seiner Stimme akustisch die Akzente setzt. Seit der Uraufführung 1998 in Bremen wurde das Stück über 60 Mal auf die Bühne gebracht. Erleichtert erfahren wir, dass wir heute mit fliegenden Kleidungsstücken und Kissen noch gut davongekommen sind. Denn wenn es nicht jedes Mal so ein finanzielles Problem wäre, würde Charnock gern öfter Vorhänge runterreißen oder mit dem Feuerlöscher spielen…
Künstlerische Authentizität, kreativer Witz und die Ablehnung tradierter musikalischer und choreografischer Tableaus machen das Stück zu einem einzigartigen Erlebnis. Aus diesem Grund ist es seit sieben Jahren bei vielen europäischen Tanzfestivals eingeladen. Für die euro-scene 2005 in jedem Fall eine Bereicherung. Von besonderer Risikofreude im Sinne einer Profilierung des Programms zeugt die Entscheidung, Charnock und Riessler nach Leipzig zu holen, allerdings nicht.

4. 11. 2005: „Buchettino“ („Der kleine Däumling“), Hochschule für Musik und Theater, Probensaal
An die alte Tradition des Vorlesens und Geschichtenerzählens knüpft Chiara Guidi mit ihrem 1995 entstandenen Stück „Buchettino“ an. 40 meist große Zuschauer machen es sich in winzigen Betten bequem, bevor Monica Demuru das Geschichtenbuch aufschlägt. Erzählend und spielend führt sie durch das Gruselmärchen vom kleinen Däumling aus dem 17. Jahrhundert. Die ungefähr zehn anwesenden Kinder wechseln bald ängstlich ins Bett der Eltern. Der nur mit einer spärlichen Glühlampe beleuchtete Schlafsaal wird von zwei unsichtbaren Mitspielern in Geräusche gehüllt. Ein Hörspiel zum Anfassen! Geheimnisvolle Schritte, bedrohliches Poltern über unseren Köpfen, Türenknarren, Wind und Naturgeräusche versetzen die Zuschauer mitten ins Geschehen. Der Geruch von Holz, von Heu, die alten braunen Decken beschäftigen zusätzlich die Sinne. Die wunderbare durch einen charmanten Akzent entrückte Stimme von Monica Demuru verzaubert Groß und Klein. So fesselnd kann eine 300 Jahre alte Geschichte sein, also doch noch Platz neben Harry Potter?

5. 11. 05: „Deportation“ und „Königsberg is dead“, Neue Szene
Mit Ihrer Choreografie über den Umgang mit kollektiven Erinnerungen nähert sich Natalia Agulnik einem, wenn nicht dem hochbrisantem Thema unserer Zeit. Anlässlich des 750-jährigen Jubiläums der Stadt Königsberg beschäftigen sich acht junge russische Tänzer mit der Deportation der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des 2. Weltkrieges.
Das Stück ist frei von didaktischen Ambitionen, in ruhigem Tempo wird ein schmerzlicher Teil der Geschichte Ostpreußens, seit 1945 Weißrusslands, erzählt. Historische Film- und Tondokumente setzen den zeitlichen Rahmen. Andere aktuelle Filmaufnahmen zeigen die Tänzer in damaliger Alltagskleidung in Kaliningrad. Verängstigt und gehetzt bewegen und tanzen sie sich durch Teile der Stadt. Durch die Wahl der Drehorte und die schwarz-weiß Aufnahmen entsteht auch bei den aktuellen Aufnahmen ein historischer Eindruck. Der geschickte Schnitt verwischt die Grenzen zwischen Heute und Gestern. Die Tänzer im Film verwandeln sich, einer Zeitreise gleich, in die Tänzer auf der Bühne. In Situationen des Wartens, des Reisens bewegen sich die verunsicherten Menschen. Man versucht sich zu helfen und zu stützen, scheitert in Konkurrenzsituationen und fällt einfach um. Durch den sparsamen Tanz behalten die Charaktere ihre Würde. So werden leidvolle Dinge angesprochen für die sich bekanntlich nur schwer Worte finden lassen.
Der erfrischende Dokumentarfilm von Max Ferdinand Zeitler und Gilbert Barrillé versetzt das Thema Königsberg dann in die Jetztzeit. Der Bogen der Protagonisten reicht vom Zeitzeugen über junge Einwohner Kaliningrads bis zum wahlkämpfenden Eddi (Stoiber), der auf einem Treffen ostpreußischer Landesverbände in Leipzig 2002 Stimmen für seine Kanzlerkandidatur sammelt. Zeitler und Barrillé sind auf ihrer dreiwöchigen Filmtour in Kaliningrad einer erstaunlichen Offenheit begegnet. Als hätten die Menschen geradezu auf die Beiden gewartet, plaudern sie ausführlich über ihre leidvollen Erfahrungen. Am Ende steht allerdings meist das leidenschaftliche Bekenntnis zu Königsberg. Auf dieser persönlichen Ebene verschwinden plötzlich die politischen Unterschiede. Deutscher Revanchist oder russischer Nationalist, ist das dann nicht mehr wichtig? Ein beeindruckendes Dokument von existenzieller Heimatverbundenheit, welche unbekümmert historischen Ereignissen trotzend überdauert. Auf wunderbarer Weise sind wir da wieder bei „Deportation“. Die heutige russische Jugend begegnet dem Leidensweg, der ihrer Heimat beraubten Ostpreußen. Die Schwere des Stoffes, hat sicher einige vom Kommen abgehalten. Wirklich zu Unrecht, wie man nach dem gelungenen Abend feststellt.

05. 11. 2005: „Kilka Blyskotliwych Spostrzezen“ („Einige witzige Bemerkungen“), BMW-Werk Leipzig
Der Chef des BMW Werkes Peter Claussen freut sich im Grußwort darüber „dass die ?Jungen Wilden‘ der polnischen Theaterszene in seinem Haus zu Gast sein werden“. Das Zentralgebäude des BMW- Werkes, von der irakischen in London lebenden Architektin Zaha Hadid, hat kurz nach seiner Fertigstellung 2003 die Feuilletons zu wahren Jubelstürmen veranlasst. Es wurde als Ikone einer neuen Industriearchitektur direkt neben Peter Behrens´ AEG-Turbinenfabrik von 1909 gestellt. Jenes Gebäude, welches gemeinhin mit Beginn der klassischen Moderne gleichgesetzt wird. Der spätere Bauhausdirektor Walter Gropius arbeitete in dieser Zeit in Behrens´ Büro. Architektur und Theater, schon mehrfach in der Neueren Geschichte hat diese Symbiose Visionen generiert. Gerade auch durch Walter Gropius, der die kühnen Ideen Erwin Piscators vom Totaltheater in eine flexible Theatermaschine umsetzte. Oder der Entwurf für ein neues Theater in Cagliari des Italieners Maurizio Sacripanti von 1965, dessen dynamische Struktur die physischen Grenzen des konventionellen Theaterraumes aufgehoben hat.
Mit hohen Erwartungen betritt man also Hadids Raumwunder. Der Beginn ist noch vielversprechend. Weiße Tische im großräumigen Empfangsgebäude, die Zuschauer wartend und vom ausgereichten Sekt trinkend. Ein Tänzer beginnt, zwischen den Tischen zu agieren. Unbeteiligte werden ins Spiel einbezogen, absurde Szenen. Ein gefundenes Fressen für die Presse, wann kann man schon mal einen Tänzer fotografieren, der seinen Kopf in einen richtigen Mülleimer steckt. Das Stück beginnt dann auf einer extra aufgebauten konventionellen Theaterbühne mit ansteigenden Sitzreihen. Spätestens hier fragt man sich, weshalb die selbstbewusste Festivaldirektorin, Ann-Elisabeth Wolff: „Natürlich musste auch das Stück dahin passen“, gerade dieses Stück für das BMW-Werk ausgewählt hat.
In den witzigen Bemerkungen agieren drei Personen: ein selbstbewusster Dicker, ein fragiler Dünner und natürlich die Frau. Die Musik reicht von jazzigen Rhythmen über zigeunerhaften Melodien bis zu Schlagzeugaktionen. In ungefähr 15 Szenen wird versucht, den gesamten zwischenmenschlichen Kosmos zu ergründen: Annäherung und Ablehnung, Liebe und Eifersucht, Freundschaft und Konkurrenz dabei meist im direktem dialektischem Gegenüber. Die Charaktere sind Programm, wenn der Dicke potenzstrotzend zaghafte Annäherungen brutal zerstört, die Frau aufreizend die beiden männlichen Wesen verwirrt. Die Bühne ist bis auf zwei übergroße Luftmatratzen völlig leer. Der direkte unmittelbare Tanz stört die weiterlaufende Werksroutine nicht, nur die Aktionen auf der Matratze irritieren schon mal einen vorbeieilenden Boten von DHL. Das Stück, 2004 in Danzig uraufgeführt, hat es schwer in der fabelhaften neuen BMW-Welt. Thematisch wäre es wohl besser in der Neuen Szene aufgehoben gewesen.

Programmauszug:
Freitag, 4. 11. 2005, 19.30 Uhr
Hochschule für Musik und Theater
Soc?etas Raffaello Sanzio, Cesena
„Buchettino“ („Der kleine Däumling“)
Ein Kinderstück nach Charles Perrault
Inszenierung: Chiara Guidi, Text: Claudia Castellucci, Bühnenbild: Romeo Castellucci, Geräusche: Claudia Castellucci / Carmen Castellucci, Erzählerin: Monica Demuru

Samstag, 05. 11. 2005, 11.15 Uhr
BMW Werk Leipzig
Teatr Dada von Bzdülöw, Gdansk
„Kilka Blyskotliwych Spostrzezen“ („Einige witzige Bemerkungen“)
Tanzstück nach Witold Gombrowicz
Inszenierung: Leszek Bzdyl, Musik: Mikolaj Trzaska, Bühnenbild: Maciej Chojnacki, Choreografie und Tanz: Katarzna Chmielewska, Leszek Bzdyl, Rafael Dziemidok

Samstag, 05. 11. 2005, 19.30 Uhr
Neue Szene
Dance Theatre Incluse, Kaliningrad
„Deportation“
Tanzstück zum 750 jährigen Jubiläum der Stadt Königsberg
Choreografie: Natalia Agulnik, Video: Vitaly Reminets, Musik: Alfred Schnittke und Collagen, Tänzer: P. Agulnik, E. Aliseyko, N. Chumina, E. Golovina, U. Orlova, N. Vishnya, M. Bulienov, A. Dementyev
„Königsberg is dead“
Film vom Max & Gilbert

Sonntag, 06. 11. 2005, 19.30 Uhr
Schauspielhaus
Nigel Charnock, London / Michael Riessler, Köln & Virus Streichquartett
„fever“
Tanz-Musik-Theater
Text: Sonette von William Shakespeare, Choreografie, Tanz, Stimme: Nigel Charnock, Komposition, Klarinetten, Saxophon: Michael Riessler

(Steffen Kühn)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.