Wolfgang Engel inszeniert Ibsens „Peer Gynt” (Nadja Feulner)

Henrik Ibsen: „Peer Gynt“

Regie: Wolfgang Engel

Schauspielhaus Leipzig (Großes Haus)
10.12.2005

Bilder: © Rolf Arnold


Peer Gynt – oder wie mensch es schafft, auf der Suche nach dem eigenen Ich ständig davor wegzulaufen

Wer bin ich? Und was ist Ich? Worüber definieren wir uns? Über die Rollen, die wir im täglichen Leben spielen? Das ist gefährlich, denn was ist, wenn das alles auf einmal wegfällt? Wenn man aufwacht und feststellen muss, dass die Scheinwelt, in der wir leben, nicht der Realität entspricht? Keine Masken mehr, nur noch das eigene Antlitz, das Selbst. Ist es schmerzhaft, das zu erkennen? Oder ist es befreiend, fühlt man sich dann endlich angekommen bei sich selbst, kann sagen:
ICH BIN ICH. Das ist das Ideal des Peer Gynt, des Titelhelden des gleichnamigen dramatischen Gedichts von Henrik Ibsen.

Peer ist ein Träumer und Aufschneider, der in seiner Phantasiewelt lebt und ganz hoch hinaus will, schließlich ist sein Ziel kein bescheideneres, als Kaiser der Welt zu werden. Doch so richtig will das alles nicht klappen. In seinem Heimatort in Norwegen könnte er den vom Vater versoffenen Hof retten, doch dazu müsste er Ingrid, die Tochter eines reichen Bauern, heiraten. Dazu hat er sich aber zu spät entschieden, und als Ingrid einen anderen heiraten will, entführt er sie kurzerhand von der Hochzeit und verführt sie in den Bergen. Doch schon am nächsten Morgen schickt er sie wieder heim, weil ihm die andersartige Solvejg, die er auf der Hochzeitsfeier getroffen hat, nicht aus dem Kopf geht. Auf der Flucht vor Ingrids Familie begegnet ihm die grüngekleidete Tochter des Trollkönigs. Um sie zu heiraten, folgt er ihr ins Trollreich, und entgeht dabei nur knapp der Verwandlung in einen Troll. Dann baut er im Hochgebirge eine Hütte, und Solveig, die sich in Peer verliebt hat, will bei ihm einziehen. Doch Peer fühlt sich ihr nicht gewachsen und als ihm die Trollfrau ihren gemeinsamen Sohn präsentiert, nimmt Peer Abschied von seiner sterbenden Mutter und von Solvejg, um erst zu ihr zurückzukehren, wenn er sich ihr würdig fühlt.
Viele Leben lebt er, viele Dinge tut er auf seinen Reisen, nur an wenigen seiner Stationen nehmen wir aktiv teil. In Amerika als Räder reich geworden, will er in Griechenland Nutzen aus dem Krieg gegen die Türkei ziehen und Kaiser der Griechen werden, doch seine Freunde verraten und verlassen ihn. In der Wüste wird Peer für einen Propheten gehalten, verfällt der sinnlichen Häuptlingstochter Anitra und landet schließlich in einem ägyptischen Irrenhaus, wo er zum Kaiser der Selbstsucht ernannt wird.
Jahre später kehrt er als alter Mann nach Norwegen zurück, wo Solvejg immer noch auf ihn wartet. Die Heimat ist verkommen und fremd geworden, doch Solvejg hat ihr Leben lang auf ihn gewartet und ist glücklich, dass er endlich zurückgekehrt ist. Nachdem er dem Knopfgießer noch eine Gnadenfrist abringen konnte, bekennt er vor Solvejg seine Schuld, doch diese spricht ihn von seinen Sünden frei und nimmt ihn bei sich auf.

Peers großes Problem ist, dass er sich nie festlegen will, weil er immer denkt, es wartet noch etwas Besseres auf ihn, nur kann er so auch nie irgendwo ankommen. Trotzdem möchte er immer dazugehören. Doch Anerkennung ist auch, besonders bei den Trollen, an gewisse Aufnahmerituale geknüpft. Beinahe lässt er sich zu einem Troll transformieren, doch als er hört, dass es kein zurück mehr gibt, tut er es nicht. Das ist ein wiederkehrendes Motiv, er kann keine finalen Entscheidungen akzeptieren, er scheut vor der Konsequenz. Er hätte mit Ingrid ein sorgenfreies Leben haben können, doch er ist nicht der Typ für Haus und Hof, er ist ein Abenteurer. Ebenso mit Solvejg, sie strahlt zu viel Bindung aus, und im Erkennen liegt schon die Abwendung. Denn Festlegung würde ja bedeuten, dass er nicht mehr Kaiser der Welt werden kann. Dadurch wird er immer allein sein, ein heimatloser Wanderer, der sich immer neue Identitäten sucht, sie ihm aber nur in den Kleidern und nicht in den Knochen stecken, wie er es nach dem Prophet- sein erkennen musste. Er hat Angst, vor Identitätsverlust, die Nichtfestlegung kann als Versuch der Selbstbewahrung gesehen werden. Immer schneller wechselt er aber seine Identitäten, immer öfter wechselt er den Ort, bis er schließlich an den Rand des Wahnsinns gerät und ernsthaft existentiell gefährdet ist, was die Szene im Irrenhaus gut verdeutlicht. Seine zwanghaftes Identität-schützen-wollen führt ihn zu Grenzerfahrungen, wo sich kaum noch zwischen Wahrheit und Unechtem unterscheiden lässt.

Die Leistungen der Schauspieler sind wieder großartig, besonders gut hat Aurel Manthei die Herausforderung einer solchen großen Rolle gemeistert: trotz ständiger Präsenz auf der Bühne hat er es geschafft, die Spannung aufrecht zu erhalten und einen glaubhaften Gynt zu verkörpern. Liv-Juliane Barine war wieder sehr überzeugend als enttäuschte Braut und Trolltochter, und Katharina Ley zeigte eine sanfte und liebenswerte Solvejg, die am Ende ihre Blindheit überzeugend rüberbrachte. Etwas enttäuscht hat mich Ellen Hellwig in der Rolle der Mutter Aase, die zu sehr Mannsweib gespielt hat, ein bisschen weniger wäre auch noch ausreichend gewesen.

Die Herausforderungen an Regie und Bühnenbild, besonders was den vierten Akt angeht, wurden intelligent gelöst. Das Bühnenbild ist schräg in den Raum eingebaut und nutzt so die gesamte Tiefe aus. Zwei Höhenebenen wurden genutzt, um zum Beispiel das Gebirge darzustellen. Es gibt viele kleine, liebevolle Details mit großem Symbolcharakter, wenn zum Beispiel eine Sphinx aus Pappmaschee aus der Wand schnallt. Ihr „Erkenne dich selbst“ verschreckt Peer noch immer, wieder ergreift er die Flucht, doch auch, um irgendwann nach Hause zu kommen, zu sich zu kommen?

Die Frage, ob Peer es mit seinem Lebensmotto „eines stets vermeiden, sich ganz für was entscheiden“ geschafft hat, sein Ziel „ich will ich sein“ erreicht hat, sollte sich jeder Zuschauer selbst beantworten. Es lohnt sich auf jeden Fall, in die Aufführung zu gehen.

(Nadja Feulner)

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