Fragen für den Einwanderungstest: Welche Stadt ist Deutschlands Buchmetropole? – „Leipzig liest 2006” (Steffen Kühn)

„Leipzig liest“ – Buchmesse 2006

Freitag, 17.03.2006

Britisches Understatement und verbale Beschleuniger

In welcher deutschen (Groß)Stadt steht mitten im Zentrum ein hundertzweiundvierzig Meter hohes aufgeschlagenes Buch? Nach der diesjährigen Leipziger Buchmesse sollten die hessischen Einwanderungssheriffs um Oberhäuptling Koch diese Frage unbedingt in ihren Kanon aufnehmen. Mit über hundertsechszehntausend Besuchern in fünf Tagen und – was noch schwerer wiegt – mit einem Besuchertagesrekord für die Neue Messe überhaupt am Samstag hat Leipzig eindrucksvoll seinen Platz in der Champions League der Literatur- und Verlagsszene demonstriert. Wenn diese Botschaft doch mal im ewig niedergeschlagenen Lande ankommen würde: Tagesrekord für das Messegelände zur Buch- und nicht zur Automesse. Wen stören da schon die täglichen Staus auf den Zubringerstraßen in den Norden Leipzigs. Das hatte dann schon Kultcharakter wie allabendlich Tausende in den überfüllten Straßenbahnen vom Messegelände zurück ins Zentrum zu den Lesenächten strömten.

Irgendwann gegen 20.00 Uhr, Südvorstadt KPMG Gebäude: Lord Ralf Dahrendorf, Julian Nida-Rümelin und Paul Nolte diskutieren über Deutschland im 21. Jahrhundert. Was in der Presseankündigung noch sehr nach gepflegter Diskussion im Elfenbeinturm gerochen hat, „Der Traum von der Postmoderne ist endgültig ausgeträumt“ entpuppt sich eine halbe Stunde nach Beginn der Talkrunde als unterhaltsamer Disput. Nida-Rümelin doziert farbenfroh über humanistische Traditionen Humboldtscher Prägung. Für das deutsche Bildungswesen hat er folgendes Rezept: gleicher Zugang und Förderung für alle, keine frühzeitige Spezialisierung und Beschneidung der Allgemeinbildung, außerdem müsste die Jahrgangsabiturquote weiter angehoben werden. Mit viel Witz und britischen Understatement legt Dahrendorf den Finger immer wieder in die Wunde: durch die Fokussierung auf soziale Gerechtigkeit befinden sich die Deutschen im ständigem Spagat zwischen Freiheit und Gleichheit. Freiheit können sich die Menschen nach seinen Worten nur selbst schaffen, der Staat kann den Rahmen vorgeben, aber die Entscheidung dem Einzelnen über Lebensinhalte- und ziele nicht abnehmen. Merkels „Mehr Freiheit wagen“ in Ihrer Antrittsrede als Bundeskanzlerin haben bei ihm deshalb sehr positive Erwartungen ausgelöst, in Deutschland dagegen viele (soziale) Ängste erzeugt. Paul Nolte hat zu jedem Thema irgendwas zu sagen, er verliert leicht den Faden der Diskussion aus dem Blick. Auch er ein Verfechter der grenzenlosen und alles heilenden gymnasialen Bildung mit Studienabschluss. Hier hakt Dahrendorf energisch ein: die Deutschen sollten sich doch auf die Stärken ihrer weltweit einmaligen Berufsausbildung besinnen. Die Menschen sollten selbst zwischen einer soliden Berufsausbildung und einer akademischen Karriere wählen können. Dem Staat bleibt die wichtige Aufgabe, den unterschiedlichen Bedarf in ausreichende Kapazitäten zu lenken. Die staatliche Vorgabe einer ständig wachsenden Jahrgangsabiturquote empfindet er schon als Eingriff in freiheitliche Strukturen. Um das britische Verständnis von Freiheit zu illustrieren, erzählt er, wie man sich in England gegen die Einführung eines Personalausweises zur Wehr setzt. Sich am Ende schon entschuldigend, folgt Anekdote auf Anekdote, um seine ruhig vorgetragenen Gedanken zu untermauern.

21.30 Uhr Galerie für zeitgenössische Kunst (GfzK) – Neubau Weezie: Rockpoet Bas Böttcher aus Berlin trägt seine Texte vor. Welch herrlicher Kontrast: dort sorgsam gereifte und perfekt formulierte Gedanken und hier im überhitzten und überfüllten Veranstaltungssaal hochbeschleunigte Wortakrobatik. Mit seiner rhythmischen Vortragstechnik zieht Böttcher seine Zuhörer sofort in den Bann. Da kommt vieles zusammen: Olaf Schubert, Heinz-Rudolf Kunze und die alles bestimmende verbale Schnoddrigkeit der HipHop Generation. Der Nachteil dieses verbalen Beschleunigers: nach einer Stunde kann man sich an fast nichts mehr im Detail erinnern, nur daran, dass man wieder mal gut gelacht hat. Aber vielleicht lag es ja auch am Rotwein? So flüchtig wie die Erinnerung an die Inhalte ist oft auch die Halbwertzeit der jungen deutschen Literaten. Im immer krasser werdenden Wettstreit um mediale Aufmerksamkeit lauert latent die Gefahr, dass die kommerzielle Literaturszene die Talente allzu schnell verbrennt. Und wer kann sich schon den verlockenden Angeboten der Verlage entziehen. Selbst Böttcher ist bei aller zur Schau getragenen Coolness doch sichtlich stolz auf sein Buch.

Ab 21.00 Uhr haben die jungen Verlage kookbooks (Kurt-Wolff-Preis 2006), blumenbar, Jungle World, und Verbrecher Verlag zur Party ins Cortex in der Körnerstraße geladen. Schöne Idee! Haben sich viele gedacht und selbst 23.00 Uhr drängt sich noch eine dichte Menschentraube vor dem Cortex. Messechef Oliver Zille hat angekündigt, im nächsten Jahr die Kapazitäten auf dem Messegelände zu erweitern, am Samstag soll es zum Teil zu regelrechten Menschen-Staus in der Glashalle gekommen sein. Und auch bei „Leipzig liest“ wird man sich Gedanken machen müssen, wie man die wachsende Zahl der Literaturhungrigen im nächsten Jahr unterbringt.


(Steffen Kühn)

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