Wunde Wagner: „Parsifal”, inszeniert von Roland Aeschlimann (Ingo Rekatzky)

Richard Wagner: Parsifal
Musikalische Leitung:Ulf Schirmer
Inszenierung, Bühne:Roland Aeschlimann
Kostüme:Susanne Raschig
Chöre:Sören Eckhoff, Sophie Bauer

Premiere am 8. April 2006
Oper Leipzig


„Erlösung dem Erlöser?“ – Wagners „Parsifal“ im blauen Schein

Lange hat man warten müssen, lange ist man vertröstet worden, und fast möchte man glauben, die oft zitierte zwiespältige Beziehung zu seiner Geburtstadt währe bis heute an. Doch nachdem von privater und institutioneller Seite auch überregional der Ruf immer lauter wurde, dass bis zum 200. Geburtstag des Komponisten wenn schon nicht der „Ring“, so doch zumindest ein vorzeigbares Repertoire seiner Werke stehen müsse, erlebte am 8. April nach über neun Jahren mit dem Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ wieder ein Werk Richard Wagners am Leipziger Opernhaus seine Premiere und bildet den Auftakt einer Reihe, die im November 2006 mit dem „Lohengrin“, später mit dem „Rienzi“ fortgesetzt werden soll.

Wie wohl kaum bei einem zweiten Komponisten entfacht sich an Wagners Oeuvre die Werktreuediskussion, da gerade seine mythologisierenden, literarisch zweifelhaften Libretti nicht zuletzt nach dem Missbrauch durch den Nationalsozialismus heute als problematisch gelten. Doch während eingefleischte Wagnerianer auf eine strikte Einhaltung der Anweisungen des Meisters pochen und wegen der allmählichen szenischen Erneuerung auf dem Grünen Hügel ihr Exil an der New Yorker Met oder in der deutschsprachigen Provinz suchen, unterbrechen hingegen Vertreter des so genannten Regietheaters den dritten Aufzug der „Meistersinger von Nürnberg“ für eine Diskussion, ob eine derartige Deutschtümelei nach den Erfahrungen aus der Geschichte überhaupt noch aufführbar sei. Dass Letzteres nun am Leipziger Opernhaus geschehen könne, war bei der aktuellen Premiere des „Parsifal“ nicht zu erwarten, schließlich hat die Intendanz das Regietheater, in dem die Regisseure doch nur ihre eigene Persönlichkeit in Szene setzen würden, jüngst für tot erklärt und sich stattdessen auf die Fahnen geschrieben, den jeweiligen Bühnenwerken selbst in einer intelligenten, dabei ein breites Publikum ansprechenden Lesart zu ihrem Recht zu verhelfen.

Gemäß dieses Selbstanspruchs wurde Roland Aeschlimanns seit 2004 am „Grand Théâtre de Gen?ve“ laufender „Parsifal“ nun für die Leipziger Oper eingekauft, schließlich ist Aeschlimann, der erst vor einigen Jahren als Regisseur in Erscheinung trat, seit langem erfolgreicher Bühnenbildner und verspricht zumindest eine ästhetisch aufsehenerregende Inszenierung der Gralsgeschichte. Aufsehen erregt seine Ausstattung tatsächlich, denn auch nach dem Orchestervorspiel verschleiert ein blauer Gazevorhang die Szenerie, einzig die mannshohe, in der Breite das gesamte Portal einnehmende Tafel, auf der in hell leuchtender Schrift – unter anderem – die Namen zahlreicher Gralsritter aus Wolfram von Eschenbachs Epos „Parzival“ zu lesen sind, wird während der drei Aufzüge herabgesenkt und dient nun als Spielfläche. Unterstützt durch eine überzeugende Lichtgestaltung (Lukas Kaltenbäck) ermöglicht dieser Kunstgriff, die im „gotischen Spanien“ angesiedelte Geschichte um den Heiligen Gral und den damit verbundenen christlichen Erlösungsgedanken aus Zeit und Raum, laut Wagner nur in der Vorstellungswelt existente Komponenten, zu entrücken und in symbolträchtigen Bildern die Bezüge der Handlung zu verdichten. So findet die runenverzierte Scheibe, die in Amfortas Burg den Gral verhüllt, ihr Komplementär in der betörend farbenprächtigen, hypnotisierenden Spirale in Klingsors Zaubergarten, werden also die Extreme der Geistes- und Sinneswelt als zwei Seiten einer Medaille dargestellt. Auch besitzt der überdimensionale, nach unten weisende Speer eine mehrfache Konnotation, verweist auf Klingsors Selbstentmannung und Amfortas‘ Wunde, ermöglicht darüber hinaus ebenfalls eine subtile Lösung des Problems, dass laut Libretto der Heilige Speer als Zeichen für Parsifals Berufung über dessen Haupt zu schweben hat.

All das böte die Grundlage für eine dramaturgisch innovative Regiearbeit, nur verlässt sich Aeschlimann zu sehr auf die atmosphärische Kraft seiner Bilder, kann diese aber nicht immer inhaltlich füllen. So versucht die Inszenierung, den zentralen Erlösungsgedanken im „Parsifal“ durch philosophische und während des Karfreitagzaubers auch buddhistische Zitate nicht allein auf das Christentum zu beschränken, vermeidet ebenfalls die Feier der Eucharistie im ersten Aufzug und deutet den Gral entgegen Wagner nicht als den Kelch des letzten Abendmahls, sondern eher wie Wolfram als geheimnisvollen Stein, sodass die eigene Assoziation zwar einigen Freiraum erhält, allerdings auch vieles im Vagen bleibt. Somit dominiert leider auch in dieser Neuinszenierung der schöne Schein über einer dramaturgisch schlüssigen Deutung, wofür nicht zuletzt die Namenstafel spricht. Zwar ist der Versuch, einen Bezug zu Wolfram herzustellen, verheißungsvoll, nur leider kann ihn die Inszenierung in den seltensten Fällen realisieren. Allein die Nennung zahlreicher Helden, die in Wolframs Epos dem Gral fern stehen oder gar anderen mittelhochdeutschen Epen und Mythen entstammen, erweckt den Eindruck, man habe die fünf Reihen der Ästhetik halber irgendwie füllen müssen, weshalb auch dieses vielversprechende Detail als szenisches Dekor verpufft und sich erneut bewahrheitet, dass eine moderne Ausstattung allein kein Garant für eine zeitgenössische Interpretation ist.

Denn wohingegen gerade die „Parsifal“-Inszenierungen der letzten Jahre so manches Mal den Wunsch evozierten, die „Frau Aventiure“ möge wie in Wolframs neuntem „Parzival“-Kapitel an die Tür klopfen und den allzu sehr in politische oder archaisch-mythologische Deutungen abschweifenden Erzähler/Regisseur wieder an seine Aufgabe erinnern, bleibt Aeschlimann den Konventionen des Wagnerschen Bühnenweihfestspiels weitgehend verpflichtet. Zwar werden die Gralshüter im ersten Aufzug als nicht mehr funktionierende, durch Amfortas‘ Verwundung kraft- und identitätslose Gemeinschaft dargestellt, innerhalb der Titurels Ermahnung zur Gralsenthüllung auch nur noch als akustisches Phänomen präsent ist. Einzig Gurnemanz, gewappnet mit der Gralsgeschichte unterm Arm, versucht, das Fähnlein wenigstens zum Schein aufrechtzuerhalten, resigniert allerdings auch, als der „reine Tor“ Parsifal die Zeremonie nicht verstanden hat, sich in ihm also noch nicht der „durch Mitleid Wissende“ offenbart. Doch all das wird zum Schluss nicht wieder aufgenommen: Nachdem der inzwischen gereifte Parsifal den siechen Amfortas durch den erneuten Speerstoß geheilt hat und selbst der Unendlichkeit entgegen zu schreiten scheint, findet die ewige Untote Kundry entseelt in Amfortas‘ schützenden Armen die ersehnte Ruhe, sodass eine kritische Hinterfragung oder gar andere Lesart der zentralen Aussage „Erlösung dem Erlöser“ durch dieses pathetisch-geschlossene Schlussbild nicht zugelassen wird.

Zu einem Erfolg wird der „Parsifal“ aber dennoch durch die musikalische Realisierung, die den Vergleich mit den großen Häusern nicht scheuen muss. Ursprünglich sah der Besetzungszettel des „Parsifal“ nahezu ausschließlich hauseigene Kräfte vor, lediglich für die Rolle des Amfortas‘ hat man Peter Weber, wagnererprobtes Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, engagiert, der zwar bisweilen in der Tiefe ein wenig presst, seine Partie aber mit markantem Bariton dramatisch anzulegen weiß. Darstellerisch bleibt Weber allerdings hinter seinem Potential zurück, da – abgesehen von Amfortas‘ Leiden an der nicht weiter konkretisierten Wunde – die Inszenierung der von Wagner als „Mittelpunkt und Hauptgegenstand“ betrachteten Figur eher einfallslos gegenüber steht.
In der Probenphase sind jedoch gerade die auch an anderen Häusern erfolgreichen Wagnersolisten Cornelia Helfricht und James Moellenhoff krankheitsbedingt ausgefallen, sodass diese Rollen kurzfristig umbesetzt werden mussten: Als Gurnemanz sorgt Alfred Reiter zuerst für Irritation, denn der laut Libretto „rüstig greisenhafte“ Gralsritter kommt bei ihm szenisch wie stimmlich erstaunlich jung daher. Angenehm überrascht ist man auch, dass sich Reiter weniger auf eine brachial tönende Sonorität seines Basses verlässt, sondern vielmehr durch die technisch perfekte, sehr beherrschte Gestaltung seiner Partie und vorbildliche Textverständlichkeit besticht, was gerade den Passagen, in denen Gurnemanz in epischer Breite die Gralsgeschichte zu schildern hat, sehr entgegenkommt. Für die rastlos durch die Zeiten irrende Kundry, Verführerin und Dienerin, Täterin und Opfer zugleich, konnte mit Petra Lang gar eine der erfolgreichsten Sängerinnen ihres Faches gewonnen werden, die diese musikalische Extrempartie bravourös und mit immensen Gestaltungsspektrum meistert: Mühelos zwischen hochdramatischen und schwelgerischen, beinahe lyrischen Passagen oszillierend, bewahrt die Lang selbst in den expressiven Ausbrüchen ihrer Partie eine betörende Wärme und verleiht der ambivalenten Kundry auch szenisch einen ergreifenden Ausdruck, sodass gerade der zweite Aufzug über weite Strecken von ihrer Bühnenpräsenz lebt. Als Parsifal hat sich hingegen das neue Ensemblemitglied Stefan Vinke dem Leipziger Publikum vorgestellt, dessen Engagement künftig auf ein Repertoire hoffen lässt, welches einem Jugendlichen Heldentenor genügend Raum zur Entfaltung bietet. Zu Beginn eher zurückhaltend, gestaltet Vinke seinen Parsifal nach Kundrys erkenntnisbringendem Kuss – signifikanter Weise auf Amfortas Namen – gerade in der Höhe mit zunehmender, dabei wohlproportionierter Strahlkraft, sodass sein Tenor selbst im Forte keine Anzeichen der Anstrengung verrät. Daneben gelingt Vinke, was den meisten Sängern seines Stimmfachs versagt bleibt, nämlich ein sehr lebendiges, dabei differenziertes Rollenporträt, das nie – wie so häufig bei den Darstellern des „reinen Toren“ – die Distanz zur Bühnenfigur vermissen lässt oder ins Banale abzurutschen droht.

Ebenfalls auf hervorragendem musikalischen Niveau präsentieren sich der Chor und das in bis auf wenige Ausnahmen in zahlreichen kleineren Rollen sehr präsente Ensemble, allen voran die sechs Blumenmädchen (Ji-Yeong Jeong, Hendrikje Wangemann, Kathrin Göring, Viktorija Kaminskaite, Ines Reintzsch, Alexandra Kloose), die allein durch ihre musikalische Präsenz dem eher an Eurhythmieübungen erinnernden Verführungsreigen in Klingsors Zaubergarten die von Partitur und Libretto verlangte spielerisch-laszive Erotik verleihen.
Dass das Gewandhausorchester für das spätromantische Oeuvre Wagners prädestiniert ist, steht außer Zweifel, schließlich rekrutiert sich alljährlich das Bayreuther Festspielorchester gerade unter den Streichern zu einem großen Teil aus jenem Klangkörper. So verwundert es auch nicht weiter, dass mit Ulf Schirmer einer der führenden Wagnerdirigenten der jüngeren Generation verpflichtet werden konnte, der dieses Repertoire auch an renommierteren Opernhäusern betreut. Bereits während des Orchestervorspiels wird ein behutsamer, niemals ins Plakative abgleitender Spannungsaufbau erzeugt, der durch eine im Leipziger Orchestergraben lange Zeit rare Transparenz besticht. Schirmer gelingt es, dieses Niveau nahezu über den gesamten Abend zu halten und die richtige Balance zwischen Sängern und Orchester zu finden. Zwar erinnern die sich im Laufe des Abends häufenden Unsauberkeiten im Blech schmerzlich daran, dass Wagner in seiner Geburtsstadt nicht zum Standardrepertoire gehört, insgesamt liefert das Orchester aber eine dramaturgisch schlüssige Interpretation, die im blauen Schein der Inszenierung allzu oft zu versickern droht.

Und so spricht der Premierenapplaus für sich, denn neben dem tosenden Jubel für Petra Lang, Alfred Reiter und Ulf Schirmer, der für Stefan Vinke und Peter Weber nur ein wenig verhaltener ausfällt, mischen sich in den freundlichen Applaus für Roland Aeschlimann zwar keine Buhs, aber auch nur sehr vereinzelte Bravi: Die Inszenierung ist gefällig, wird sicherlich über einen längeren Zeitpunkt ihr Publikum finden, bietet aber kaum Reibungsfläche und bleibt wie so oft hinter der überwiegend erstklassigen musikalischen Leistung zurück. Ein szenisch großer Wurf, den die Leipziger Oper nicht nur vor dem Hintergrund der städtischen Sparpläne dringend nötig hätte, sieht aber anders aus. Bleibt zu wünschen, dass sich Musik UND Theater nicht erst im Wagnerjahr 2013 auf Augenhöhe begegnen werden.


(Ingo Rekatzky)

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