Die Wahrheit starb am 11.09.01: Der Film „Flug 93” von Paul Greengrass (Benjamin Stello)

Flug 93
(United 93)
USA 2006, 111 Minuten
Drehbuch und Regie: Paul Greengrass
Darsteller: J.J. Johnson, Gary Commock, David Alan Basche, Ziad Jarrah
Kinostart: 1. Juni 2006

Fotos: UIPLangweilige Pseudo-Geschichtsstunde

Offensichtlich sind Filme über historische Ereignisse mit pseudo-dokumentarischem Anspruch zur Zeit sehr in Mode: Der deutsche „Untergang“ brachte es trotz fragwürdiger künstlerischer Qualität bis zur Nominierung für einen „Oscar“, der französische „Joyeux Noël“ desgleichen; deutlich besser funktionieren die amerikanischen Werke „Traffic“ oder „Syriana“, die allerdings ihre dargestellten historischen Tatsachen mit deutlichen Fiktionalitätssignalen transportieren. Mit „United 93“ kommt nun ein Film in unsere Kinos, der sich den Ereignissen des 11. Septembers 2001 widmet und sowohl von Selbstverständnis als auch Außendarstellung her „Wahrheit“ vermitteln möchte.

Im Vordergrund der Handlung steht das vierte am besagten Datum in Amerika entführte Flugzeug, das als einziges nicht sein von den Terroristen vorherbestimmtes Ziel in Washington erreichte und über unbewohntem Gebiet abstürzte, während die anderen drei bekanntlich World Trade Center und Pentagon nachhaltig beschädigten bzw. zerstörten.

Die Rekonstruktion der Ereignisse geschah anhand von Protokollen und Dossiers, aber auch durch Gespräche mit Angehörigen der Todesopfer, sodass selbst die von den Passagieren des Flugzeuges verzehrten Süßigkeiten dieselben sein sollen, die die wirklichen Absturzopfer zu sich genommen hatten. Die Recherchen waren ganz offensichtlich in hohem Maße umfassend und das ist auch an vielen Kleinigkeiten zu bemerken. Gecastet wurden dazu Laiendarsteller, die sich als „normale“ Menschen exakt in ihre toten Doppelgänger einfühlen und so eine noch größere Glaubwürdigkeit transportieren sollten; dazu gab es bis auf wenige vorgegebene Schlüsselszenen nur improvisierte Dialoge: Alles musste im Dienst einer „glaubwürdigen Wahrheit“ stehen, wie der Regisseur und Drehbuchautor Paul Greengrass sein Ziel definierte. Dieser ist bislang allerdings eher mit durchwachsenen Mainstream-Produktionen aufgefallen (u.a. „Die Bourne Identität“).

„Glaubwürdige Wahrheit“ ist zugleich auch ein gutes Stichwort, um das Hauptproblem von „United 93“ auf den Punkt zu bringen: Eine Wahrheit kann auch unglaubwürdig und dennoch wahr sein, und vor allem gibt es keine historisch unumstößliche Wahrheit, sondern nur Annäherungen an diese.

Bei dem hier in Frage stehenden Film ist dies auch nicht anders: Jeder weiß, was auf einer historischen Ebene an Ereignissen passiert ist, niemand kann aber wissen, was tatsächlich an Bord des entführten Flugzeugs vor dem Absturz geschehen ist. Jede Rekonstruktion beruht auf unvollständigen Auszügen, etwa des Funkverkehrs oder weniger Telefongespräche. Das muss kein Problem sein: Im Kino kann Fiktionalität ohne Zweifel auch bei historischen Themen akzeptiert werden, wenn die Umgebung wahrheitsgetreu ist. Ein gutes Beispiel aus jüngerer Zeit ist Ridley Scotts „Gladiator“, der in exakt recherchierter antiker Umgebung und unter Einbeziehung weitgehend gesicherter historischer Erkenntnisse eine spannende, unterhaltsame und dennoch rein ausgedachte Geschichte erzählt.

In „United 93“ ist das aber anders: Der Film macht ganz offensichtlich und an vielen verschiedenen Stellen den Anspruch geltend, dass er unumstößliche, quasi dokumentarische Wahrheit vermittele. Das kann aber eben nur über gesicherte Kleinigkeiten geschehen und so wird in diesem Werk mehr Aufmerksamkeit auf unwichtige Details – wie eben die von den Passagieren zu essenden Süßigkeiten – verwendet als auf die eigentlich wichtigen Geschehnisse. Und das geschieht so wenig subtil, dass sofort zu merken ist, wie durch die Konzentration auf unwichtige, aber gesicherte Dinge die Aufmerksamkeit von den unsicheren, aber wichtigen Geschehnissen abgelenkt werden soll. Das ist spätestens nach einer halben Stunde nur noch ärgerlich: So dumm ist wohl kaum ein Zuschauer, dass er die Fiktionalität des Films nicht dennoch durchschauen würde.

Neben diesem verfehlten Anspruch ärgert an „United 93“ aber auch eine wenig gelungene handwerkliche Umsetzung des selbstgesteckten Themas. Der Spannungsbogen ist elementar für das Funktionieren jedes Films, hier aber weitgehend nicht vorhanden. Im ersten Teil sollen beispielsweise für eine erhöhte Publikumsaufmerksamkeit auch die reißerischen Bilder des zusammenstürzenden World Trade Centers auftauchen, was über die Einbindung der Flugleitstellen in das Werk geschieht. Die hier arbeitenden Menschen werden als vollständige, dem Film immanente Charaktere eingeführt – und kommen im zweiten Teil von „United 93“ kommentarlos nicht mehr vor. Viele unnötige Verzögerungen lassen den Film teilweise sehr ermüdend und insgesamt eine halbe Stunde zu lang erscheinen: Abschiedstelefonate der abstürzenden Passagiere mit ihren Angehörigen werden gegen Ende auffällig extensiv dargestellt, haben aber keine weitere Funktion für den Film selbst und hätten auch als weniger tränenselige und dafür erheblich verkürzte Sequenz ihren Zweck erfüllt. Die Klischeeansammlungen, die das Drehbuch den Passagieren überstülpt, torpedieren dann die „glaubwürdige Wahrheit“ erst recht und nehmen selbst der Fiktion viel von ihrer Überzeugungskraft: Die Frauen sind grundsätzlich kreischende, weinende, tendenziell inaktive Wesen, die Männer finden in der Bedrohung zu Stärke und üben dann eine äußerst fragwürdige Selbstjustiz aus, die hier aber als durch die Umstände gerechtfertigt erscheinen soll. Die Terroristen hingegen – am Anfang des Films noch differenziert dargestellt – verlieren zum Ende hin jegliche psychologische Tiefe und wirken als austauschbare, karikatureske Abziehbilder, die der gerechte Zorn der Passagiere trifft.

Das wiederum wird filmisch ausgesprochen schlecht umgesetzt: Der Angriff der (männlichen) Fluggäste auf die Bösen ist inszeniert wie die Attacke einer Herde Zombies in einem schlechten Horrorfilm. Gerade gegen Ende hin entwickelt der Film teilweise eine unfreiwillige Komik, die dann in einer bedeutungsschwangeren Schwarzblende nach dem Absturz des Flugzeugs gipfelt, bevor salbungsvoll formulierte Texttafeln erläutern, was noch alles an diesem 11. September geschehen ist. Diese Einblendungen sollen natürlich wieder als historisch gesicherte Wahrheiten für höhere Glaubwürdigkeit sorgen, weisen durch den verfehlten dokumentarischen Anspruch des Films aber doch nur wieder überdeutlich auf das Fiktionalitätsproblem hin.

Insgesamt bleiben damit trotz der sicherlich beeindruckenden Recherchearbeit und dem ohne Zweifel interessanten Thema des Films zwei Mängel, von denen jeder einzelne schon dafür gesorgt hätte, dass „United 93“ als Ganzes nicht funktioniert: Erstens wird nicht akzeptiert, dass es keine historische Wahrheit gibt, bestimmte Momente insbesondere kurz vor dem Absturz nicht belegt sind und es auch nicht sein können. Stattdessen wird versucht, den Zuschauer durch Details zu übertölpeln und ihm eine unumstößliche, leider aber nirgendwo und niemals existierende Wahrheit zu verkaufen. Zweitens ist der Film jenseits dieses Faktums einfach als Leinwandwerk schlecht umgesetzt: Inszenierung und Spannung bleiben konstant auf so niedrigem Niveau, dass der Streifen auch auf dieser Ebene scheitert. Selbst wenn das Ziel von „United 93“ nur gewesen sein sollte, den Absturzopfern ein Denkmal zu setzen, hätte man ihnen ein interessanteres Requiem gewünscht. So bleibt der Film sowohl von seiner Qualität als auch von seinem Unterhaltungswert her bestenfalls unteres Mittelmaß – schade!(Benjamin Stello)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.