Bürgers Nachtlied im Schauspiel: „Vor Sonnenuntergang” (Tobias Prüwer)

„Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenuntergang“
Schauspiel Leipzig
Regie: Matthias Gehrt
U.a. mit: Friedhelm Eberle,
Katharina Ley
Premiere: 22. September


Bürgers Nachtlied: Vor Sonnenuntergang

Dass auch Generationsverträge nicht unaufkündbar sind, erfährt der angesehene Industrielle Matthias Clausen (Friedhelm Eberle) jäh, als er sich mit 70 Jahren in die junge Kindergärtnerin Inken Peters (Katharina Ley) verliebt. Seine aufs Erbe spekulierenden Kinder laufen Sturm gegen diese Verbindung und bereiten die Entmündigung vor.

Gerhart Hauptmanns naturalistisches, schnörkellos auf ein Ende in der Katastrophe ausgelegtes Spätwerk hat im Schauspiel Leipzig eine maßvolle Aufführung gefunden. Die mit Parkett ausgelegte Bühne (Gabriele Trinczek) erzeugte das Flair großbourgeoiser Wohnlichkeit. Hinten angehoben, wurde sie zur schrägen Aktionsfläche und gab die räumliche Dimension fürs Spiel frei. Diese zusätzliche Möglichkeit zur Arbeit mit Nähe und Distanz wurde ausgiebig genutzt. Hinzu kam eine ungewohnte, an Die Ratten heranreichende Lust am Spiel. Trotz der auf Konfrontation angelegten Situation schwoll der Familienzwist nicht zum plumpen Gelärme an und der dramatische Fünfakter gedieh unter der Regie von Matthias Gehrt zum bewegten Spiel. Die Zwischentöne wurden oft getroffen und die Rollen trotz offenkundiger Parteinahme differenziert dargestellt. Etwa wenn der Hallodri Egmont, Clausens Sohn, sich zwar um finanzielle Einbußen sorgend, trotzdem nichts gegen die unstattliche Beziehung einzuwenden hat und vom Entmündigungsverfahren Abstand nimmt. Hinzu kommt ein nicht erstaunlicher, aber umtriebiger Friedhelm Eberle in der Rolle des den zigsten Frühling genießenden Graumelierten, die wie für ihn maßgeschneidert wirkt. Einmal durchaus glaubhaft mimend, spielt er natürlich wiederum nur sich selbst.

Das ist aber gar nicht so abwegig, schreibt sich doch auch ein vielleicht altersweiser oder -weinender Hauptmann mit Autobiographischem und Zugetragenes reflektierend in das Stück selbst massiv mit ein. Den Titel seines Erstlings und ihn berühmt machenden Stücks Vor Sonnenaufgang variierend dient ihm das späte Drama als ideale Situation für den selbstgezogenen Schlussstrich und Paukenschlag der ruhig gewordenen Karriere. Hier bäumt sich ein letztes Mal der große naturalistische Entwurf auf, sowie die Darstellung einer glänzenden Ära, in der sich auch ein Industrieller noch Ideale und schöngeistige Kontemplationen leisten konnte. Wenn in diese weichgemalte, schöne alte Welt die neue Ordnung einbricht und das ökonomische Kalkül sein Recht fordert, aktualisiert sich das historische Ferment, auf dem die heutigen Schaukämpfe um Neue Bürgerlichkeit im Feuilleton ausgetragen werden. In dieser Hinsicht ist es keineswegs überraschend, dass auch das zweite diesjährige Hauptmannstück im Schauspiel Leipzig große Resonanz findet; und vom Kleinen Brechtjahr inszenatorisch keine Rede ist. Vielleicht aber muss sich eine Institution wie diese gerade auf Stücke verstehen, die für ein Publikum gemacht sind, das beim Prädikat bürgerlich weder nach Jucken und Kratzen noch Hauen und Stechen verlangt. Eines ist gewiss: In der Wechselwirkung zwischen zuweilen biederer Aufführung und mindestens ebensolchen, brandenden Applaudierenden steckt mehr als eine komische Note dieses zartbittren Abgesangs auf eine verklärte bürgerliche Welt, dessen Wirkung in einem Stadttheater umso nachhaltiger ausfällt.

(Tobias Prüwer)

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