Fade Kaltschale: Guy Joosten interpretiert „Luisa Miller” (Sebastian Schmideler)

Giuseppe Verdi: „Luisa Miller“
Oper Leipzig
Melodramma tragico in tre atti
Koproduktion mit de Vlaamse Opera
Musikalische Leitung: Riccardo Frizza
Inszenierung: Guy Joosten unter Mitarbeit von Johannes Erath
Bühne: Johannes Leiacker
Lichtdesign: Davy Cunningham
Choreinstudierung: Sören Eckhoff
Gewandhausorchester
Graf Walter: Giovanni Furlanetto
Rodolfo: Kosyantyn Andreyev
Federica: Alexandra Klose
Wurm: Tuomas Pursio
Miller: Marco Vratogna
Luisa: Fiorella Burato
Laura: Yoonjin Song
Chor der Oper Leipzig
Weitere Aufführungen: 13.& 22. Oktober 2006

Liebe – Intrige – Gift: Giuseppe Verdis Luisa Miller
ein Marionettentheater von Guy Joosten


In manchen Opern ist einfach der Wurm drin. Dieser Wurm hat alles, was er braucht, um vollkommen zu überzeugen: dramatisch dezent und treffend charakterisierte Verschlagenheit. Durchtriebene Eleganz. Stimmliche Präsenz auf hohem Niveau. – All dies greift auf bestechende Weise ineinander. Tuomas Pursio avanciert mit seiner subtilen Gestaltung des Schillerschen Intriganten Wurm aus Kabale und Liebe in Verdis Komposition zum eigentlichen Vorbild einer gelungenen Arbeit an der Vorlage. Dass ausgerechnet er als Ensemblemitglied der Oper Leipzig dieses herausragende Zeichen setzt, spricht wieder einmal für dieses Haus und für das Potential seiner darstellenden Protagonisten.

Leistungen wie diese sollten nach der grandiosen Interpretation von Dietrich Hilsdorfs Entführung eigentlich nicht länger Ausnahme bleiben. So überzeugend es war, anzunehmen, dass manche Suppen besser schmecken, wenn sie noch einmal aufgekocht werden, so groß war der Optimismus, die Koproduktion von Luisa Miller mit de Vlaamse Opera könne in der Leipziger Bearbeitung an Stringenz und Durchsichtigkeit gewinnen. Die Erwartungen waren hoch gesteckt, zumal Guy Joosten insbesondere mit Freischütz und den Berliozschen Trojanern der Intendanz von Henri Maier einige der wenigen markanten Höhepunkte verschafft hatte. – Aber wer von den kritischen Zuschauern hatte zur Leipziger Premiere der Luisa Miller am 23. September 2006 schon wirklich das Gefühl, hier einer Regiearbeit zu begegnen, die sich in dem Topf befindet, wo es kocht? Allenfalls ein lauwarmes und gewürzarmes Süppchen wurde für die Zuschauer aufbereitet.

Wie man es auch dreht und wendet – trotz der Drehbühne, die bis zur zumutbaren Schwindelgrenze karussellartig in Bewegung war, bleibt festzuhalten: Der Siedepunkt des Treffenden war überraschenderweise nur selten wirklich erreicht. In den aufgesetzt wirkenden Pointen und handwerksmäßigen Kunstgriffen wechselten sich ähnlich wie im bekannten Gesellschaftsspiel vom Topfschlagen heiß und kalt auf befremdliche und merkwürdige Weise miteinander ab. Mal trafen die Pointen, mal trafen sie nicht. Dabei mangelte es nicht an guten Einfällen, wie man sie von Joosten gewohnt ist: Intrigant Wurm schält den Apfel der Sünde zu einem schlangengleichen langen Streifen und kostet genüsslich von den präzise zertrennten Apfelstückchen. Die Herzogin ist wie eine rollige Katze blind vor Gier nach Liebe und wird als monocula dargestellt. Sie trägt als Zeichen dafür eine Augenklappe, während der tumbe Tor Rodolfo, der an Luisas Liebe zu ihm zu zweifeln wagt, extrem kurzsichtig bleibt, wie seine Brille augenfällig beweist. Intrigant Wurm wird buchstäblich als Schreibtischtäter vorgeführt. Im modernen Betonbüro hat er seine eigentliche Heimat – so wie überhaupt die Postmoderne, symbolisiert durch ihre Architektur, bei Joosten die Brutstatt des Verruchten darstellt. Sie bildet ein neues Kleid für die alten unbeherrschten Triebe, das mit den Überwürfen und Kostümierungen des 19. Jahrhunderts eine verhängnisvolle Verbindung eingeht. Im symbolbeladenen Billardspiel von Wurm und Graf Walter berühren sich beide Welten. Ihre Queues geben den intriganten Anstoß zur fatalen Entscheidung zwischen Schicksal und Geschick. Es lauern Gefahr und Verrat. Freiheit und Liebe werden durch Hinterlist und Eigennutz verraten und verkauft. – So weit, so gut.

Allüberall finden sich überdies Joostens bestechende Leitmotive wieder, wie sie die Leipziger aus Freischütz und den Trojanern kennen: Wieder einmal ist (motiviert durch Verdis operntraditionsbewusst komponierte „Halali“-Chöre) Hubertusjagd. Wieder einmal blinken allenthalben Gewehrläufe auf und werfen aus allen möglichen Winkeln und Ecken ihre gefahrvollen Schatten. Trophäen hängen an den Plexiglaswänden. Verdis Musik schwankt mittendrin zwischen Sonnambula und Rigoletto, und keiner weiß so richtig, ob auf der Pirsch nach Tod und Blut nur Tiere oder nur Menschen erlegt werden sollen. Denn schon zu Beginn der dramatischen c-moll Ouvertüre spritzt Blut im Glaskasten – einer Objektinstallation, die als Bruch zwischen einem flämischen Jagd-Tiergenrebild eingeklemmt ist. Der kleine schwarze Kater auf der rechten Seite dieses Gemäldes verweist schon hier auf drohendes Unheil. – Das alles ist originell und professionistisch gemacht.

Doch der letzte, entscheidende Punkt für eine schlüssige und inspirierte Interpretation – er fehlt auffallend. Die kammermusikalische Intimität der psychologischen Entwicklung der Figuren wird nur unzureichend gezeigt. Die besondere Aufgabe, vor die ein moderner Interpret dieser Oper gestellt wird, besteht in der Behebung der bekannten Mängel in der Vorlage Verdis: der störenden bel-canto-haften Nummernfolge dieser Oper zum einen, der aus Zensurgründen gänzlich entschärften politischen Dimension der Schillerschen Vorlage zum zweiten, der Blassheit der Charaktere zum dritten. Anstatt mehr motivierte Bewegung und schauspielerische Aktion auf die Bühne zu bringen und den Figuren durch Entwicklung das Plakative zu nehmen, verstärkt Joosten durch starre, konventionelle und unglaubwürdige Bewegungen und wilden Drehbühnenaktionismus diese Mängel noch. Der psychologische Ansatzpunkt, der davon ausgeht, in Luisa und ihrem Vater-Tochter-Konflikt eine Präfiguartion von Rigoletto zu sehen, hätte eine schauspielerische Durchdringung erfordert, die Joosten offenbar nicht oder nur bruchstückhaft in Erwägung zog. Damit ist die eigentlich interessante zweite Ebene dieser Oper, das in psychologischer Spannung Schwankende, das den Protagonisten schließlich den Boden unter den Füßen wegreißt, trotz Drehbühnenkarussell nicht durchgeführt. Diese Ebene wird dem Zuschauer nicht deutlich genug erschlossen. Daran ändern weder die zwischen Moderne und 19. Jahrhundert oszillierende Bühnenkonstruktion von Johannes Leiacker noch die nach demselben Prinzip geschneiderten Kostüme von Klaus Bruns etwas.

Es bleiben Fragen, die Joosten mit seiner Interpretation eher verdeckt als problematisiert: Wo bleibt Luisas innere Zerrissenheit? Wo der Schmerz des Vaters, der seine Tochter aufgerieben sehen muss, zwischen Liebe und Verrat? Wo spüren wir den Schauder des Fatums – jenes Verhängnis des Schicksals, das der Intrigant Wurm zu umgehen scheint, das aber Luisa und Rodolfo durch Giftmorde mit schrecklicher Konsequenz einholt? – Das alles hätte in einer zweiten Ebene – versteckt aber präzise – herausgearbeitet werden müssen. Die ersatzweise eingefügten handwerklich wirkenden Metaphern und Veranschaulichungen, die viele Zuschauer schon sattsam kennen, tragen zwar unverkennbar Joostens eigenständige Handschrift, haben aber mit den eigentlichen Problemen dieser Oper nur oberflächlich etwas zu schaffen. Wieso liegt Luisa bspw. in einem Krankenhausbett? – Zum Fiasko gerät die als Höhepunkt angelegte Todesszene: Während der Vater seinen Schmerz über den Verlust seiner Tochter in jammervollen Tönen zum Ausdruck bringt, bleibt er zur Salzsäule erstarrt wie angewurzelt auf großem Sicherheitsabstand stehen. Ist dies ein beabsichtigter Bruch, eine motivierte Leerstelle oder fahrlässig oder eine Referenz an die lästige italienische Aufführungsmanier, an der Chaillys Maskenball scheiterte? – Hier wie dort ist zu konstatieren: Die Richtung der Interpretation wird nicht erkennbar. Die marionettenhafte Starre, mit der die Figuren auf der Dreh-Bühne fixiert werden, anstatt sie mit mehr Schauspiel und mehr Bewegung in die inneren Abläufe zu integrieren, machen ein Einfühlen in die psychologische Konfliktspannung kaum möglich.

So entsteht auch auf der musikalischen Seite ein nur schönes plakatives Bild – so gefällig, brav, bieder wie diese ganze Inszenierung. Niemand zweifelt an der begabten, schönen, energisch-präzisen Stimme der Fiorella Burato als Luisa. Keiner will an der kraftvollen, echt italienischen Dynamik und Fülle der donnernden Stimme von Luisas Vater Miller, dargestellt von Marco Vratogna, etwas aussetzen. Aber musikalische Exaktheit und Kraft allein machen noch keine gelungene Interpretation aus. Der ziemlich ideal besetzte Kostyantyn Andreyev als Rodolfo wird mit seiner leuchtenden, klaren und ausdrucksstarken Stimme diesen Eindruck nicht wesentlich verändern, obwohl er sich an diesem Premierenabend gewissermaßen vorübergehend selbst entschuldigen musste, weil er sehr stark indisponiert war. Durch seine silbergraue Erscheinung repräsentiert Giovanni Furlanetto als Graf Walter den alten Adel stimmlich und optisch.

Was die Leistungen des Chores betrifft, so gibt es zwischen dem erhöhte Verantwortung nach sich ziehenden Anspruch, zu dem die Auszeichnung mit dem Echo Klassik Award für den Lobgesang unter Chailly verpflichtet, und der Wirklichkeit in dieser Aufführung mehr als nur eine kleine Lücke. Auch hier wird leider viel Potential verschenkt – dieser Chor hätte mehr wirken können, wenn er nicht auf engstem Raum wie an Ort und Stelle festgeleimt gestanden hätte und die Einsätze präziser aufeinander abgestimmt worden wären. Ob es Riccardo Frizza durch sein Dirigat immer gelang, die Fäden im Orchestergraben mit denen auf der Bühne zu verknüpfen und zusammenzuhalten, soll beurteilen, wer will und mag…

Intendant Henri Maier hat im aktuellen Jahresheft verkündet: „Ziel meiner Arbeit ist es, an jedem Opernabend sängerische und musikalische Qualität zu garantieren, die den internationalen Ansprüchen entspricht, die nicht zuletzt das Gewandhausorchester stellt.“ Erinnert sei auch an Riccardo Chaillys zur Devise erhobenen Aufgabe: Langsam schneller werden. Wenn dies keine Lippenbekenntnisse sein sollen, muss sich die Oper mit diesen Ansprüchen vergleichen lassen. Wie nicht nur Dietrich Hilsdorfs Entführung gezeigt hat, kann das Leipziger Haus ungeachtet der wie ein Damoklesschwert über allen Entscheidungen schwebenden Spardebatte Großes leisten. Daran sollte es sich messen. Die erhöhte Wertschätzung der künstlerischen Aufgaben sollte darum jedoch nur desto mehr ins Zentrum der Diskussion rücken. Ob die Oper Leipzig eine Baustelle bleibt, ob sie – um in Chaillys Bild zu sprechen – ins Largo oder ins Allegro moderato überwechselt, das ist ein sensibler Balanceakt, der zweifellos viel Fingerspitzengefühl erfordert, da Publikumsinteressen und kritischer Anspruch sich die Waage halten müssen. Doch gerade wenn das Geld knapp ist und die Akzeptanz der Oper in der Mitte der Gesellschaft auf dem Spiel steht, muss man desto vorsichtiger überlegen, in wen und in was man investiert. Ob die Wahl mancher Inszenierungen, mancher Regisseure und deren Regiekonzepte dabei immer gut für die künstlerische Weiterentwicklung des Hauses war und ist, sei dahingestellt. – Wir sind gespannt auf Lohengrin.

(Sebastian Schmideler)

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.