Groteske über Mauerbau: „Orpheus; Illegal” (Tobias Prüwer)

Juri Andruchowytsch: Orpheus; Illegal
Schauspiel Leipzig, Neue Szene
Regie: Jan Jochymski
Bühne, Kostüme & Video: Thilo Reuther
Mit: Julia Berke, Thomas Dehler, Armin Dillenberger,
Andreas Keller, Stefan Schießleder, Lissa Schwerm
Premiere: 24. September


Europa am Arsch – Orpheus; Illegal

In den letzten Jahren konzentrierten sich die Regierungen der Zielländer von Zuwanderung angesichts des „hohen Migrationsdrucks“ zunehmend auf eine Politik der Auslagerung. … Es ist nun die Rede davon, an allen möglichen Stellen „Pufferzonen“ oder „Sicherheitsgürtel“ einzurichten.
Le Monde diplomatique: Atlas der Globalisierung


Tschernobyl, Visa-Affäre, Menschenhandel – was mehr fällt ein zum Stichwort Ukraine? Fortan sollte es auch der Autor Juri Andruchowytsch sein, dessen erstes Theaterstück Orpheus, lllegal gerade jene Klaviatur dunkler Schlagworte grotesk gekonnt bespielt. Bei ihm geriert die Europäische Union zur Unterwelt, in die der ukrainische Orpheus, der Gelegenheitslyriker Stanislaw Perfezky (Stefan Schießleder), hinabsteigt. Auf einer EU-Konferenz – geladen zum folkloristischen Referat über seine Heimat – erlebt er die Macher des „Europas der Lager“ als eine unangenehme Gesellschaft aus Politikern, Bürokraten und Expertiesenschreibern, angeführt von EU-Kommissar Dr. Schäfer (exzellent unappetitlich: Armin Dillenberger); und plant ein Attentat, um den Bau eines „Schutzzauns“ an der östlichen EU-Grenze zu verhindern. Trotz und wegen, obwohl und aufgrund seiner politischen Agenda findet sich Tausendsassa Perfezky in libidinösen Fallstricken mit Ada Citrina Riesenbock (Julia Berke) wieder, die ihn nicht nur bespitzelt, sondern auch mit dem Architekten (Andreas Keller) der Mauer liiert ist. Und während seine Eurydike (Lissa Schwerm) als Prostituierte durch Funktionärsschweiß getränkte Hotelbetten irrt und „Illegale“ den Untergrund durchziehen, gewinnt der High-Tech-Limes an Gestalt.

Nach wessen Zuschnitt verlaufen die Grenzen der EU? Welchen segregierenden Interessen kann ein ganzer Kontinent zum Opfer fallen? Warum unterliegen Menschen hinter einer willkürlich gesetzten Grenze – sei sie es aus Angst oder Besitzstandswahrung gezogen – einer anderen Bewertung als jene, die „drin“ sind in der Festung Europa? Das sind die Fragen, die Orpheus, Illegal ins Blickfeld rückt. Die lakonische und leider ehrliche Antwort weist auf historische Kontingenz und göttliche Zufälligkeit bei der Lokalitätenvergabe, wie bereits die Ukraine im Bühnenraum – ganz rechts, im Osten – als peripherer Ort markiert wird. In einer Art Nebenraum mit Ährenfeld und orangefarbenen Fahnen findet sie sich dran- und abgehängt als „Europas Kornkammer“ und jüngst beklatschter Revolutionsplatz, der nur Souvenir, nie Souverän ist.

Der Zündstoff um Flucht und Migration, Ausbeutung und die Verheißung der Einbürgerung entflammt unter der Regie von Jan Jochymski zur bösen Groteske. Engagiertes Spiel führt durch temporeiche, sich überschlagende Szenen. Die dichte Inszenierung spielt mit den Vorurteilen – ohne sozio-geographische Lehrstunde zu sein – und geißelt mit beißender Ironie die europäische Fortifizierung beispielhaft an einem Mauerbau, welcher die ukrainische Seele vor den Fängen des Raubtierkapitalismus bewahren soll, wie es an einer Stelle zynisch heißt.

Vor unseren Augen vollzieht sich eine neue Teilung der Welt, und das Traurige ist – sie vollzieht sich mitten in Europa.

(Tobias Prüwer)

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