euro-scene die zweite: Die zuckende Hüfte, der Scherenschnitt (Johanna Lemke)

Konsonanzen ? Dissonanzen: euro-scene Leipzig
16. Festival zeitgenössischen europäischen Theaters
Charlotte Engelkes: Miss Very Wagner
Béla Pintér: Roncsolt Kópia
Hans-Werner Klohe: Hugo Wolf Projekt
Frans Poelstra & Robert Steijn: I am … in concert
7. ? 12. November 2006


Die zuckende Hüfte, der Scherenschnitt

„Manchmal verlassen Frauen ihr Zuhause und stehen am Strand.“ – Dass die schwedische Performerin Charlotte Engelkes ihre Wagnersche Opernheldinnen in heutigem Tonfall sprechen lässt, heißt nicht, dass sie sie banalisiert. In der Ein-Frau-Show Miss Very Wagner hantiert Engelkes mit Wagners Frauenfiguren und probiert dabei Senta, Elsa, Isolde und Brünhilde in all ihren Facetten durch. Nicht nur Leiden und Hingabe bestimmen die Frauen, sondern eben auch Unkonventionalität, Stärke oder weibliche Solidarität – schnell und schrill und komisch, aber immer wieder sehr berührend wirft Engelkes all dies in phänomenaler Geschwindigkeit durcheinander. Nahezu jede mögliche Darstellungsform wird durchexorziert: deklamierender Gesang und pathetische Gesten, schmetternde Arien und lockere Alltagssprache. Wagnerscher Pomp darf nicht fehlen, vor allem nicht im geradezu prädestinierten Großen Saal der Schaubühne Lindenfels, aber die menschlichen Worte, die Engelkes den Frauen gibt, negieren das Überwältigende des Gesamtkunstwerks ganz schnell. Wagners Musik bildet nur die Grundlage, der Musiker Willy Bopp verjazzte die Opern, rüttelte sie mit lateinamerikanischen Rhythmen durcheinander, teils bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Vor allem Charlotte Engelkes selbst hatte spürbar Spaß an „ihren“ Frauen, und auch wer wenig Ahnung von den Figuren hatte, konnte sich einfach vom Turbosprint durch die Wagnersche Weibsbilder mitreißen lassen.

Das mit dem Mitreißen ist so eine Sache, bei Béla Pintér tat man sich etwas schwerer – aber vielleicht war dies auch nicht die Absicht. Auch Pintér warf im Schauspielhaus vieles in einen Topf: Oper und ungarischen Heimatfilm, nationale Märsche und Kabarett. Das Thema des Musikdramas Roncsolt Kópia (Zerkratztes Zelluloid) ist aus einem häufig verschwiegenen Teil der ungarischen Geschichte entnommen: der Pakt mit Nazi-Deutschland, ungarischer Antisemitismus, Hunderttausende tote Soldaten. Der bedrückende Plot wird kombiniert mit der seichten Stimmung einer Heimatoper. Die in Reih und Glied stehenden Soldaten führen ihre Gespräche in trillernden Melodien, und sogar der Befehlston des Offiziers wird gesungen, man fühlt sich versöhnt mit dem eigentlich brutalen Gestus und erschrickt über die eigene Reaktion. Die weiß geschminkten Gesichter der Figuren und das eierschalenfarbige Bühnenbild schaffen eine Zweidimensionalität, das weiche Licht verwischt die Konturen – genau wie die ungeliebte Geschichte in Ungarn verwässert wird. Die sparsamen, symbolischen Bilder sind keine schlechte Idee bei einem solchen Thema, doch der stark stilisierte Gestus, verbunden mit der einlullenden Musik ungarischer Schlager wirkt manchmal doch zu zäh. Pintér wagt Brüche, dann amüsiert die schnoddrige Sprache oder die überzogenen Klischees, und Lachen über ein solches Thema, das tut weh. Oder Brutalität wird rücksichtslos ausgestellt, wie die Erschießung des splitternackten Juden Heinz, und reißt so heraus aus dem Eindruck, sich in einem harmlosen Melodrama zu befinden. Dann ist es da, das Gefühl, hinter die Fassade von etwas mühsam Zugedeckeltem geblickt zu haben, das sich am Ende als Scherenschnitt vor dem Diffusen abhebt – zwar schwarz, aber eben mit scharfen Konturen, und das ist vielleicht sogar deutlicher.

Ein bisschen mehr Schärfe hätte Hans-Werner Klohe gut getan. Der deutsche Choreograf, der unter anderem mit Sasha Walz und Joachim Schlömer gearbeitet hat, versuchte sich an den Liedern der Komponisten Hugo Wolf und Alexander Skrjabin. Es ist nichts neues, klassische Musik zeitgenössisch zu vertanzen, und leider gelang es Klohe es auch nur an wenigen Stellen, das Konventionelle zu erneuern. Klohe hat nicht nur choreographiert, er tanzt auch selbst, gemeinsam mit Veronica Cendoya und – was das Stück spannend macht – gemeinsam mit der Pianistin Anne Le Bozec und dem Sopranisten Christoph Sökler, die zwischen und während des Musizierens immer wieder in den Tanz mit einbezogen werden. Sie lassen sich heben und wenden, werden selbst zu Dirigenten der Tänze und durchbrechen die häufig zu harmonischen Pas de Deux. In diesen finden sich kaum spektakuläre oder gar provozierende Ideen. Die Tänzer taktieren Grenzen aus, suchen nacheinander, aber dabei verharren sie in der Gewöhnlichkeit altbekannter Tanzmöglichkeiten. Die Stimmung der spätromantischen Einsamkeitslieder wird weitgehend untermalt, so bleibt das Stück bis auf ein paar Ausnahmen konventionelles Mittelmaß. Das Schöne der Lieder schmerzhaft zu durchbrechen, anstatt sich mit der altbekannten Schwergewichtigkeit zeitgenössischer Tänzer im Pathos zu weiden, das hat gefehlt. Zugute zu halten ist der Choreografie, dass es sich in das BMW-Werk nicht nur einfügt, sondern sich diese zu Nutze macht. In der kühlen Atmosphäre moderner Architektur, die mehr das Gefühl einer Vorstandssitzung vermittelt, siegen die Tänzer und Musiker über den Raum, und es stört fast gar nicht mehr, dass im Hintergrund beschürzte Hostessen ihre Runden drehen und Häppchen für hinterher bereiten. Es bleibt die Frage, ob es denn wirklich notwendig war, den Sponsor auch noch Räumlichkeiten stellen zu lassen, denn diese irritieren tatsächlich.

Der letzte Tanz der euro-scene gehörte zwei Holländern: Frans Poelstra, der die Unschuldigkeit des Discotanzes zurück erobern will, unterstützt von Robert Steijn, der die Texte der Songs, zu denen sie als junge Männer getanzt hatten, bedeutungsschwanger rezitiert und sie zu fast heiligen Worten macht. Das Performance-Duo United Sorry persifliert das Tanzen der Jugend, als man für die Texte der Lieder noch Bewegungen fand und ausdrucksstark mitsang, als der gekonnte Hüftschwung Gold war und es noch darum ging, möglichst viele der am Rand Stehenden zu beeindrucken. Diese Männer haben in ihrer Jugend wahrscheinlich wirklich Mädchen durch’s Tanzen rumgekriegt. Heute tanzen sie hauptsächlich professionell – über den Verlust der Unschuldigkeit sind sie auch mit rund 50 Jahren noch nicht hinweg gekommen. Im Theater Fact am letzten Festivalabend wird der gelungenen Disco-Performance wieder ihre volle Bedeutung gegeben, und weil Frans Poelstra im gestreiften Rock oder hautengen Body manchmal zum Schreien komisch ist und man ihm die Ernsthaftigkeit dennoch in jedem Augenblick abnimmt, geben die Holländer der diesjährige euro-scene das, was ihr im Großen vielleicht ein wenig gefehlt hat: den Bruch einer Aussage, ohne ihre Wichtigkeit zu verwässern. Das ist Avantgarde, das hätte noch ein bisschen mehr kommen können.

Frans Poelstra liegt am Boden und zuckt noch einmal mit der Hüfte, und um es mit Charlotte Engelkes Worten zu sagen: „When the singing is done, it’s time to leave“.

(Johanna Lemke)


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