Kein langweiliges Programm

Brahms und Tschaikowski werden vom Gewandhausorchester unter Leitung Kurt Masurs im Großen Saal gespielt

Es gibt ja allerhand Klischees über die ach so konservativen Gewandhausprogramme: zu viel Klassik und Romantik, zu wenig Moderne, zu wenig Unbekanntes. An diesem Abend scheint sich das Klischee zu bestätigen. Kurt Masur tritt auf mit Brahms‘ Violinkonzert und Tschaikowskis Pathétique – zwei Werken also, die wohl zu den meistgespielten überhaupt zählen. Dass der Große Saal unter solchen Bedingungen voll ist, versteht sich von selbst. Aber kann das mehr sein als eine Begegnung mit alten Bekannten, nett, aber wenig aufregend?

Was die erste Hälfte des Konzertes angeht: leider nein. Das liegt vor allem an der Solistin, Sarah Chang. Etwas zu oft gelingen ihr Lagenwechsel oder Doppelgriffe nicht ganz perfekt und bei einem so oft gespielten Werk wie dem Brahms-Konzert fällt das leider auch sehr auf. Denn es sind wahrscheinlich die meisten der Anwesenden von einer Aufnahme mit einem der ganz großen Geiger (oder einer der ganz großen Geigerinnen) verwöhnt. Leider springt auch darstellerisch wenig der Funke über. Und vor allem: es passt nicht zu jedem Stück und vor allem nicht zu jeder Musikerpersönlichkeit, bei virtuosen Passagen mit dem Fuß aufzustampfen!

Beim weiteren Vergleich mit dem „gewohnten“ Höreindruck fallen die ungewöhnlich moderaten Tempi auf. Die Rahmensätze nehmen Chang und Masur (ja, wer eigentlich?) sehr langsam, wodurch sie hier und da ermüdend wirken, den Mittelsatz hingegen für ein Adagio zu flott. Masurs Ziel scheint Wohlklang zu sein und mit dem Gewandhausorchester ist das ja ein Leichtes (besonders schön: die Holzbläser am Anfang des zweiten Satzes!), doch „man“ hat das Stück eben schon aufregender gehört. Hört man es vielleicht auch einfach zu oft?

Auch Tschaikowskis Pathétique hat wahrscheinlich jeder Abonnent im CD-Regal, doch was das Orchester nach der Pause abliefert, ist mehr als der Blick auf ein verstaubtes Denkmal. Mitreißend und wahrhaft „pathetisch“ im Sinne von leidenschaftlich ist das, was Masur aus diesem Symphonikschinken gemacht hat. Mit den ersten Basstönen setzt ein ungeahnter Spannungsbogen ein, der bis zum Ende des Abends halten soll. Herrlich doppelbödig klingt der 5/4-Walzer, doch zum Highlight des Abends wird das vermeintliche Finale (das aber eben nicht der Schluss ist!): der dritte Satz.

Ist das nicht zu schnell? Wird nicht der Marschcharakter dieses Satzes verloren gehen? Werden sich nicht irgendwann Ungenauigkeiten einschleichen? Masur wischt alle diese Fragen fort, das Orchester spielt mit einer überirdischen Präzision. Das Publikum ist Feuer und Flamme und vergisst sogar ein paar Minuten zu husten. Alle Fadheit des ersten Konzertteils ist vergessen, und dass im letzten Satz, dem aufschreiend versterbenden Adagio lamentoso dann doch einiges klappert, tut überhaupt nichts mehr zur Sache, denn endlich wird uneingeschränkt begeistert und begeisternd Musik gemacht.

Dass das Publikum beim Schlussapplaus aufsteht, überrascht bei einem Masur-Gastspiel nicht, wäre in diesem Fall aber auch allein für die Musik schon gerechtfertigt gewesen. Die Erkenntnis des Abends: es kommt nicht so sehr darauf an, was man spielt, sondern wie man es spielt. Und vielleicht sind Repertoirestücke in gewisser Hinsicht auch schwieriger.

GROSSES CONCERT

Johannes Brahms (1833-1897): Konzert für Violine und Orchester D-Dur op.77
Peter Tschaikowski (1840-1893): Symphonie Nr.6 h-Moll op.74 („Pathétique“)
Sarah Chang, Violine
Gewandhausorchester
Kurt Masur

16. November 2006, Gewandhaus, Großer Saal

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