euro-scene, die vierte: „Make up-Oper” (Claudia Euen)

Konsonanzen ? Dissonanzen: euro-scene Leipzig
16. Festival zeitgenössischen europäischen Theaters
OKT ? Vilnius City Theatre: Grimo Opera (Make up-Oper)
7. ? 12. November 2006


Was ist wichtig im Leben?

Milieustudie ohne Ausblick: In ihrer Deutschlandpremiere beim euro-scene Festival frönt die litauische Grimo Opera (Make up-Oper) dem Dilemma moderner Individualisten.

Das Schöne am Theater ist, dass es nicht alles zu erklären versucht. Dass es Interpretationsspielräume lässt, die jeder für sich ausloten und abstrahieren kann. Die ersten Interpretationsbissen der Make up-Oper, die am Freitag Abend des euro-scene Festivals im LOFFT Theater ihre Deutschlandpremiere feierte, schmecken fad und verleiten kaum zur Abstraktion. Schon der Titel Make-up ist der direkte Hinweis auf eine oberflächliche Maskerade, und wenn sich die Videokamera ihren Weg durch die riesige Menge an Parfümflakons bahnt, wirkt diese logische Übersetzung zunächst entzaubernd.

Auf der Bühne gibt es drei Schauspieler, drei Mikrofone, drei Wasserflaschen, einen Tisch. Sonst nichts. Sie verkörpern einen Sänger, eine Schauspielerin und eine Ballerina. Außer wenigen sehr kurzen Tanzeinlagen, bleiben sie hinter ihren Mikros stehen. Und reden. Und säuseln, wispern, schreien, stöhnen, fluchen aus ihrem Leben. Es sind kurze Szenen, die sie in den Raum werfen. Häufig wiederholend in anderen Stimmlagen und Farben, auf der Leinwand erscheinen dazu unterschiedliche Charaktere. Porträts der drei Darsteller immer wieder neu geschminkt, neu frisiert. Kann das Äußere eines Menschen seine Persönlichkeit verändern? Die Geschichten handeln von Einsamkeit, der Suche nach sich selbst, der Unmöglichkeit der Liebe. Und wenn die Schauspielerin zum fünften Mal von ihren gescheiterten Beziehungen erzählt und dem einzigen Vorteil, dass sie dadurch wenigstens Bohnensuppe kochen könne, und die Dramatik durch ausdrucksstarken A-cappella-Gesang gesteigert wird, dann möchte man am liebsten den Ton leiser drehen. Dann könnte man meinen, die Grenze des Erträglichen sei erreicht. Doch davon sind die aus Litauen stammenden Regisseure Biruté Mar und Oskaras Korsunovas ein ganzes Stück weit entfernt. Sie wollen provozieren, doch reizen sie den Raum des Möglichen nicht bis zum Ende aus. Das ist gut so. Ihre Arbeit ist eine Analyse und kein Schocken. Die Grundlage des Stücks bilden Interviews aus bekannten Lifestylemagazinen und Fernsehshows, Werbeslogans und Anleitungen zum Schminken. Es sind Zeugnisse einer alles entblößenden Gesellschaft. Für die Medien wird diese Menge an Bildern und Tönen erschaffen, ohne sie würden sie resonanzlos verpuffen. Was daran wahr oder falsch ist, bleibt im Verborgenen. Aber haben wir das nicht längst vergessen?

Make-up ist eine Kritik am Voyeurismus unserer Zeit, am Offenlegen des Privaten ohne Scham und Skrupel. Doch nutzt es nicht gleichzeitig das, was es kritisiert? Bereits veröffentlichte Zitate werden wieder verwendet. Aus der wörtlichen Maskerade unseres Alltags wird Kunst. Und wie so oft bleiben die Kunstschaffen unter sich. Eine Studie über den eigenen Mikrokosmos. Die Schauspielerin berichtet in sarkastischer Verzweiflung davon, sich dem ewigen Druck der Produzenten zu entziehen, und je älter die dargestellten Charaktere werden um so abstruser erscheint einem ihr Drang nach Selbstverwirklichung. Was ist wichtig im Leben? Die mediale Öffentlichkeit zu brauchen und sie gleichzeitig zu verurteilen, alles in allem ein großes Paradoxon? Antworten gibt es nicht. Es ist sicherlich auch nicht die Intention der jungen Regisseurin Mar und des international bekannten Korsunovas, einen Ausblick zu geben. Sie charakterisieren den persönlichen Grenzgang moderner Individualisten. Die Art und Weise ihrer Inszenierung ist nicht neu, aber wirksam. Das bestätigt auch der anhaltende Applaus am Ende. Und vor allem die Schlussszene wirft dem Zuschauer die Thematik einleuchtend vor die Füße. In vielen Theaterstücken ist diese Art finaler Erklärung ein meist überflüssiges Übel, nicht jedoch in Make up. Er bringt die Bedeutung einer Maske auf den Punkt. Zu sehen ist ein Gesicht, ganz weiß geschminkt mit schwarzen Augenhöhlen und auf die Lippen gemalte Zähne. Ein Totenkopf, hässlich, abschreckend, Furcht einflößend. Abgeschminkt jedoch wäre er vielleicht wunderschön.

(Claudia Euen)

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