Puccinis Konkurrent: „La Bohème” à la Leoncavallo (Sebastian Schmideler)

Ruggero Leoncavallo: La Boh?me
Lyrische Komödie in vier Akten
Kellertheater der Oper Leipzig
Mit: Lawrence Bakst, Tuomas Pursio, Jürgen Kurth, Yoonjin Song, Marika Schönberg & Erwin Noack
Musikalische Einrichtung: Bo Price
Szenische Betreuung: Verena Graubner
20. April 2007


La Boh?me ? la Leoncavallo: „Oper am Klavier“ zum 150. Geburtstag des Komponisten

Musikgeschichte kann erschreckend selektiv sein. Andere Künste haben es da besser: Auch in renommierten Gemäldegalerien lassen sich Werke der zweiten oder dritten Liga betrachten, literarische Wiederentdeckungen waren zu jeder Zeit Gang und Gäbe. Aber diejenigen Komponisten, die es nicht geschafft haben, sich in das selektive Gedächtnis der Musikgeschichte einzuprägen, haben es oft besonders schwer. Über sie schweigt die Nachwelt unerbittlich, ihre Werke, die zu Lebzeiten ihrer Schöpfer oftmals Geschmack und Mode besonders kraftvoll beeinflusst haben, sind vergessen, sie scheinen wie in einen Dornröschenschlaf versunken zu sein.

Doch mittlerweile ist die Zeit gekommen, wo die märchenhaft-magischen Jahre dieser Dornröschenzeit überwunden sind. Wissenschaftler, Journalisten, Enthusiasten und Liebhaber beschäftigen sich längst allerorten damit, in die Grüfte der Archive hinabzusteigen und ausgewählte musikalische Scheintote für die nichtsahnende Mitwelt zumindest vorübergehend wachzuküssen. Auch die Oper Leipzig bemüht sich seit längerem darum, diese Zeichen der Zeit zu erkennen: sowohl – anlässlich der Bachfeste oder im Belcanto-Zyklus – auf der großen Bühne als auch und insbesondere im Kellertheater in der Reihe „Oper am Klavier“.

Besonders hart getroffen hat das selektive Gedächtnis der Musikgeschichte den Komponisten Ruggero Leoncavallo (1857-1919), der den meisten Musikliebhabern heute nur noch durch seinen Bajazzo (Pagliacci) ein Begriff ist. Um die Jahrhundertwende war Leoncavallo ein gefeierter Stern am musikalischen Firmament seiner Zeit, er wurde von den Mächtigen seiner Epoche geradezu hofiert. Kaiser Wilhelm II. ließ von dem lebensvollen Bonvivant und begeisterten Gourmet einst ein Auftragswerk komponieren, den Roland von Berlin, ein Opus, das in der Berliner Hofoper 1904 mit viel Pomp und Glanz in Szene gesetzt wurde. Und auch wenn Leoncavallos Stern noch zu Lebzeiten verblasste, sind seine Werke – Opern und Operetten vor allem – als Zeitdokumente unverkennbar gewichtiger Ausdruck eines Geschmacks und einer Mode, die das ganze Genre Oper in dieser Zeit unüberhörbar beeinflusste. Nicht zuletzt war Leoncavallo mitbeteiligt an der Entwicklung und Ausprägung des Verismo-Stils im Fin de si?cle, eine oftmals interessante musikalische Mischung, die nach Pathos und Leidenschaft des 19. Jahrhunderts klingt und doch schon in die Moderne weist. – Leoncavallos 150. Geburtstag am 25. April 2007 bietet daher auch für die Oper Leipzig willkommenen Anlass, um den Vergessenen von einer seiner interessantesten Seiten wiederzuentdecken, zumindest am Klavier.

Wer die Wörter La Boh?me hört, denkt unwillkürlich an Puccinis nicht mehr aus den Spielplänen wegzudenkendes Opus Magnum. Das ist am 20. April 2007 im Kellertheater ganz anders. Denn es gibt noch eine andere Boh?me, eine ewige Zweite, die doch an ihrer Zeit gemessen erstklassig war. Ein regelrechter Wettstreit, kein edler, sondern ein ziemlich schmutziger, war zwischen den beiden Freunden, die miteinander gebrochen hatten, entbrannt. Denn Puccini und Leoncavallo entzweiten sich im Zwist um das Opernrecht der ersten Vertonung von Murgets Novelle Sc?nes de la vie de Boh?me. Das war für die originalitätssüchtige Jahrhundertwende ein existentieller Streit. Zeitgleich hatten beide den Stoff für sich zugeschnitten, jeder auf seine Weise: Leoncavallo als Realist und Wagnerianer, der sein eigenes Textbuch schrieb, Puccini als dramaturgisches Genie, das auf der Klaviatur der großen Gefühle mit Leichtigkeit und ebenso großem Schwung präludierte, aber auf routinierte Librettisten zurückgriff. Dass Puccinis Boh?me letztlich den Sieg davongetragen hat, lag jedoch nicht allein an der musikalischen Genialität des Komponisten. Es war auch Glück der besonderen Art. Denn dieser Sieg war vor allem dem diesem Glück ein wenig nachhelfenden Kategorien Intrige und Macht zu verdanken, namentlich in Gestalt des einflussreichen Verlegers Riccordi, der das Rad der Fortuna erfolgreich in Richtung Puccini lenkte. Zu unrecht: Leoncavallos Boh?me ist und bleibt ein musikalisch ebenso interessantes Werk, das es nicht verdient hat, fortwährend mit Puccinis Oper verglichen zu werden.

Zwar weist Leoncavallo seine Boh?me als „lyrische Komödie in vier Akten“ aus, aber die hochdramatische musikalische Gestaltung lässt trotz der spöttischen und ironischen Elemente keinen Zweifel darüber aufkommen, dass hier Schicksalsfäden der Tragödie mit realistischer Klarheit gesponnen werden. Die reduktionistische szenische Einrichtung von Verena Graubner ist dem Werk daher völlig angemessen und konzentriert sich geschickt auf das Wesentliche, auf kleine Gesten, ein paar Winke, die dem Ganzen ausgesprochen gut tun. Denn es ist die Musik und das kammermusikalische Drama der vier Protagonisten, die im Mittelpunkt stehen. Dieser Minimalismus wird auch unterstrichen durch die aus Konwitschnys gefeierter Leipziger Puccini-Inszenierung übernommenen Requisiten: Stühle, Deckenlampen, das aus lauter kleinen Lämpchen illuminierte Großstadtpanorama im Hintergrund. Das genügt als Requisite, um der Tragödie ihren Lauf zu lassen.

Was Tuomas Pursio als Poet Rodolfo und Marika Schönberg als Blumenmädchen Mimi, was Yoonjin Song als Näherin Musette und Lawrence Bakst als Maler Marcello sängerisch leisten, ergibt eine abgerundete Szenerie ? la Leoncavallo, die aller Ehren wert ist. Bo Price, der die Oper auf achtzig spannende Minuten kürzte, meistert mit Kunstfertigkeit und Akkuratesse den ziemlich anspruchsvollen Klavierauszug und knüpft die Fäden am Flügel zu den Sängern souverän. Kraftvoll unterstützt werden sie von Jürgen Kurth als Musiker Schaunard und Erwin Noack als Colline und Barbemuche.

Was Verismo-Stil bedeuten kann, zeigt vor allem Lawrence Bakst mit fülliger, ausladender und hervorragender Stimme, sehr schönen, klar ausgesungen großen Bögen und unangestrengter Natürlichkeit, die sich für die große Bühne in Leipzig unbedingt empfiehlt. Mit seiner durch Authentizität überzeugenden Interpretation gelingt es ihm, die Zuhörer erfahren zu lassen, dass die Stilfiguren des Verismo trotz der heute bisweilen befremdlich erscheinenden Wucht und den auftrumpfenden Manierismen ernste und aufrichtig gemeinte Gestaltungen von Gefühlslagen sind, wie sie das späte 19. Jahrhundert liebte und sich als ideale Ausdrucksformen des Musikdramatischen vorstellte.

Mit welchem rückhaltlosen Pathos und mit welcher Leidenschaft die Liebesszenen zwischen Mimi und Rodolfo gesungen werden können, ohne sie in ihrer Ernsthaftigkeit zu korrumpieren, beweisen Marika Schönberg und Tuomas Pursio vorzüglich. Es entsteht so der realistische Kern, auf den Leoncavallos Kunstfertigkeit fußte: Oper als Spielfläche für die große Tragik des frühen Todes und des Lebens in der gewissermaßen als lebensecht nachempfundenen ambivalenten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Wer bereit ist, diese musikalische Formensprache so zu nehmen, wie sie gemeint ist, kann hören, wie es klingt, wenn das Leben selbst den lebensdurstigen Protagonisten einen verhängnisvollen Strich durch die Rechnung macht und ihnen vielleicht Erfüllung nur im Leiden gewährt – einem Leiden, das in der Sprache dieser Musik die Gestalt von Kunst gewinnt, wie sie das mit großer Geste verlöschende, das ausgehende 19. Jahrhundert verstand.

(Sebastian Schmideler)

Ein Kommentar anzeigen

  1. 14. August 2009

    Ich finde es sehr schade, dass grade diese Oper so vernachlässigt wird. Sie gehört musikalisch zu den schönsten Werken der Operngeschichte. Ich versuche seid vielen Jahren diese Oper auf grossen Bühnen durchzusetzen. Leider vergeblich. Ich hoffe das dieses Werk nicht wieder in Vergessenheit gerät. Super das Sie es aufgeführt haben. Danke! Detlef Scharf Wuppertal

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.