Musikalisch-alchimistisches Experiment: Donizettis „Liebestrank” (Sebastian Schmideler)

Gaetano Donizetti: L’elisir d’amore / Der Liebestrank
Oper in zwei Akten
Drehscheibe der Oper Leipzig
Musikalische Leitung: Balázs Kocsár
Inszenierung: Jean-Claude Berutti
Bühne: Rudy Sabounghi
Kostüme: Colette Huchard
Mit: Eun Yee You, Stanley Jackson, Herman Wallén, Jonathan Veira & Ji-Yeon Jeong
Gewandhausorchester
Chor der Oper Leipzig
Premiere: 20. Mai 2007


„Oper ist Baustelle“: Donizettis Liebestrank auf der Drehscheibe der Oper Leipzig

Liebestränke werden meist nach altem Rezept gebraut. Das Geheimnis der Ingredienzien und – wichtiger noch – die richtige Mischung entscheiden über die oft folgenschwere Wirkung des Extraktes. In Gaetano Donizettis Liebestrank von 1832 jedenfalls müssen Zutaten und Mischung im ausschlaggebenden Verhältnis zusammengeführt worden sein. Denn die verblüffende Wirkung auf ein größeres Publikum war ausgesprochen langanhaltend. Die synthetische Komposition avancierte zu einer der wenigen von den insgesamt einundsiebzig Opern des atemlos wie eine Sternschnuppe sich selbst verzehrenden Komponisten, die seinen frühen Tod überdauert haben. Denn Donizettis L’elisir d’amore war offenbar so betörend, dass er noch bis vor wenigen Jahrzehnten gängiges Repertoirestück blieb. Dabei hatte Donizetti nur ganze vierzehn Tage daran geschrieben – er, der um die Geheimnisse des Liebeslebens wissende Magier des Belcanto. Noch Zweifel? Auch Daniel François Esprit Auber versuchte sich an dem Elixier, er benutzte das gleiche Libretto-Rezept. Doch in der nur ein Jahr früher (1831) entstandenen französischen Opern-Version des Liebestranks verpuffte die Wirkung rasch, die Mischung der Essenz stimmte nicht, es fehlte das zauberhafte Geheimnis und dem Ganzen war das Schicksal der ewigen Vergessenheit beschieden. Donizetti siegte. Quod erat demonstrandum.

Die Aufführung dieser liebenswürdigen, harmlosen und komischen Oper um Macht, Ohnmacht und Nebenwirkungen der Liebe am 20. Mai 2007 auf der Drehscheibe im Bühnenhaus war zwar nicht gerade eine bahnbrechende Wiederentdeckung, aber allemal eine willkommene, belebende und gelungene Bereicherung des zeitweise mit Eskapaden recht gebeutelten Leipziger Belcanto-Zyklus‚. Dass dieser Abend so erfreulich verlief, lag vor allem daran, dass diesmal die umgesetzte Regie-Konzeption ziemlich bruchlos aufging. Jean-Claude Berutti ist es gelungen, die Oper dort am Schlafittchen zu packen, wo sie gepackt sein will: an ihrer ironisch-erotischen Spielfreude.

Die Handlung gibt für sich gesehen nicht viel her. Sie besteht aus einer dieser klassischen „O-Bein-Geschichten“, die nach demselben Strickmuster funktionieren. Ein vom Schicksal für einander bestimmtes, aber noch mit dem Schleier der Unwissenheit verhülltes Liebespaar – hier Adina und Nemorino – geht von einem gemeinsamen Ausgangspunkt auseinander (hier ist es der Sergeant Belcore, der Adina erfolgreich Avancen macht und sozusagen Auslöser des „O-Beins“ wird). Das prädestinierte Liebespaar verstrickt sich infolgedessen in einen mehr oder minder an den Haaren herbeigezogenen Konflikt und findet, wen wundert’s, am Ende wieder zusammen. Der Kreis schließt sich, dazwischen wird ausgiebig und schwelgerisch gesungen. Nicht allzu viel also, was für Tiefsinn im Parkett taugte, wäre da nicht das gewisse Etwas. Und darauf kommt es an.

Denn da ist noch der aus der Commedia dell’arte-Tradition übernommene Doktor Dulcamara, der hier als mephistophelisch dargestellter Scharlatan und utopistisch fliegender Möchtegern-Schneider-von-Ulm mit frechen Sprüchen auf den Lippen falsche Liebestränke unters Volk mischt. Da ist die leise kichernde Ironie auf das schwergewichtige Tristan-und-Isolde-Pathos, dieses mythische Liebestrank-Urideal. Da ist der heitere, launige Blick auf die Provinz und ihre hölzernen, einfältigen Unzulänglichkeiten. Und da ist viel derb gewürzte Komik und Verspottung des tratsch- und vergnügungssüchtigen Volkshaufens.

Dieses gewisse Etwas fordert eine spielerische Umsetzung geradezu heraus. Denn dazu ist diese Leichtigkeit gemacht, dass man sie unterhaltend, aber nicht flach, sondern mit einem gewissem Quantum Tiefsinn präsentiert. Berutti versteht es vorzüglich, das ironische Potenzial zu einer überzeugenden Lesart umzumünzen. Er verlegt die Handlung aus einem baskischen Dorf des 19. Säkulums in eine westdeutsche Provinzstadt der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Stadt ist Garnison, die US-Army als Besatzungsmacht allgegenwärtig. Reeducation und Demokratisierungsprozess sind im vollen Gange. Die Handlung spielt zunächst in einem zwölfgeschossigen Gebäude, in dem Elixir d’Amor – ein werbestrategisch vermarktetes Gesöff ? la Coca Cola – produziert wird, im zweiten Bild wird die Bühne in eine amerikanisierte Vergnügungshalle verwandelt, in der Twist getanzt wird. Die Darstellenden tragen all diese biederen Alltagsuniformen und gepunkteten oder gestreiften Kleidchen, die realistisch den Provinzialismus jener Zeit repräsentieren. Das Milieu dieser schon wieder über die Katastrophe des Krieges sich hinwegtröstenden vermeintlichen Wohlstandsjahre wird in ihrer bunten Leere und Eintönigkeit gezeigt.

Der eigentlich originelle Dreh- und Angelpunkt von Beruttis Regiearbeit, der ihn über die meisten der Leipziger Belcanto-Inszenierungen hinweghebt, ist die Entdeckung des Chores als Schauspielgruppe, oder auf die Inszenierung bezogen gesagt: die Entdeckung der Business-Class als Klasse der Masse. Berutti nutzt zur Aufdeckung der skurrilen Uniformität der Masse den Opernchor als einheitliche Menge von nur unterschiedlich angezogenen Individuen, die alle das gleich tun: Büroarbeit, Fahrstuhlfahren, über die Ampel gehen, einen Imbiss nehmen, warten, Zeitung lesen (herrlich doppeldeutig: Man liest die Süddeutsche Zeitung mit der Überschrift „Juri Gagarin erster Mensch im Weltall“), Feiern, Tanzen, Amüsieren, Plaudern und Intrigieren.

Berutti schafft es, die schauspielerischen Möglichkeiten des Chores als Repräsentant der Masse voll auszureizen und durch viel gekonnte Bewegung allen langatmigen und bewegungsarmen Stellen in der Musik jeden Anflug von Langeweile zu nehmen. Er folgt der leichten, fast schwerelosen Hand der Partitur mit einem fast ebenso geschwinden, sehr gut eingespielten, einfalls- und abwechslungsreichen Bühnenablauf, ohne der Gefahr zu erliegen, in wildem Aktionismus zu enden. Die kammermusikalische Atmosphäre auf der opernbaustellenbedingten Interimsspielfläche Drehscheibe kommt Beruttis sachlich-bewegungsfreundlichem Theater sehr entgegen, das Stück ist für diese besondere Bühne sehr gut gewählt. Der realistische Kern gipfelt in einem hereingerollten Baustellenzaun, auf den als Graffito die sinnige Sentenz „Oper ist Baustelle“ gesprayt ist.

Das ist die richtige Art, aus der Not eine Tugend zu machen. Deshalb ist diese Inszenierung vor allem ein schauspielerisches Ereignis. Denn auch aus den solistischen Partien versteht Berutti Charaktere zu formen. Insbesondere Stanley Jackson in der Titelrolle als Nemorino wächst schauspielerisch deutlich über sich hinaus. Auch die stimmlich brillante Eun Yee You wird unter Berutti zu einer Spielfreude animiert, die der Rolle noch einen zusätzlichen Reiz verleiht. Folgerichtig kommt Jonathan Veira als Doktor Dulcamara im Gustav-Gründgens-Mephisto-Kostüm in den Genuss, als diabolischer Komiker mit seinen lachhaften Ungeheuerlichkeiten auf den Putz zu hauen und das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Denn ganz wie Mephisto ist der sinnliche Parlando-Quacksalber ein Teil von jener Kraft, die nur das Böse will und stets das Gute schafft. Beruttis um Leichtigkeit bemühte Akkuratesse, mit der hier offenbar gearbeitet worden ist, dieses Nicht-Zu-Viel und Nicht-Zu-Wenig lässt für die Zukunft des Leipziger Belcanto-Zyklus hoffen. Das Publikum nahm diese Art freundlich an.

Musikalisch wird der Abend unter der Leitung von Balázs Kocsár insgesamt niveauvoll gestaltet. Das Gewandhausorchester arbeitet die vielseitigen Nuancen dieser in ihren Liebesszenen bezaubernden Partitur kunstvoll heraus (berühmt und viel gesungen: die Tränen-Arie Nemorinos). Es entsteht ein zurückhaltender, wohlaffektionierter Klang, der den Belcanto-Sängern allen Freiraum lässt, den sie brauchen. Allerdings sind leider nicht alle Rollen auch stimmlich optimal besetzt. Die klare, filigrane Reinheit der Belcanto-Stimmen wird nicht in jedem Fall durchgängig gewährleistet. Die erfreuliche Regiearbeit macht diese Defizite wieder wett. Die Drehscheibenkammerbühne empfiehlt sich daher für weitere musikalisch-alchimistische Experimente dieser Art auch nach der Fertigstellung des Zuschauerhauses.

(Sebastian Schmideler)

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