Identität im Übergang: „Mutterland” ist virtuoses Sprechtheater (Tobias Prüwer)

Mutterland
von Maria Wojtyszko
LOFFT
Regie: Alexander Schilling
Mit: Stephan Fiedler, Johannes Gabriel, Antje Härle, Joanna Kupnicka, Heike Ronniger & Sascha Tschorn
Austattung: Stephan F. Rinke
Dramaturgie: Lene Grösch
Deutschsprachige Erstaufführung: 2. September 2007
www.lofft.de


Identität im Übergang: Mutterland ist virtuoses Sprechtheater

An Vorstellungen von Identität muß ein Wesen scheitern, das altert und das sterblich ist.
Käthe Meyer-Drawe: Bildung und Identität

„Wer bin ich?“ „Wo komme ich her?“ „Wo gehe ich hin?“ – Derartige Fragen, Identität, Geschichte und Lebensentwurf betreffend, treiben wohl jeden Menschen um. Handfestes ist im Ringen um Antworten schwierig bis gar nicht zu gewinnen. Mutterland, ein Stück der Autorin Maria Wojtyszko, lotet eben diese Tiefen aus. Mit der Inszenierung ist dem LOFFT ein grandioser Auftakt in die neue Theatersaison gelungen.

Die 23-jährige Lehramtsstudentin Wiktoria (Antje Härle) befindet sich auf der Suche nach dem eigenen Leben. Sich den Identitäts- wie Sinnangeboten des postsozialistischen Polens stellend, sperrt sie sich gegen die feststehenden Kategorien und von außen an sie herangetragenen Anpassungsforderungen. Bei der Frage, wie sich eine junge und dazu ungewollt schwangere Frau zu definieren hat, wollen viele mitreden. Das Publikum begleitet Wiktoria auf dieser Tour der Farce und erlebt, wie die alltäglichen Einflüsterungen und Drohkulissen ihre Macht entfalten.

Im Ausnahmezustand geboren – die polnische Geheimpolizei hatte die Mutter damals mit Druck davon überzeugt, den Vater zu heiraten – erfährt Wiktoria nicht gerade die Unterstützung der Eltern in ihrer Situation. Wie solle sie schließlich ohne Mann die Schwangerschaft bewältigen? Von Abtreibung wollen sie allerdings auch nichts wissen. Und was sei mit der Uni? In ihrem Alter habe der Vater sein Studium bereits abgeschlossen. Frauenarzt und Schwangerengruppe versuchen Wiktoria Geburt und Mutterdasein schmackhaft zu machen. Ihr Uterus, diese biologische, rasant tickende Uhr, stößt ins selbe Horn. Die Oma schwelgt in Erinnerungen an den von Deutschen ermordeten Opa. Dabei versteigt sie sich in die Schönheit eines Heldentodes, der opferbereit fürs Vaterland gestorben wurde, und meint, Schwangerschaften vergingen von selbst. Aber auch ein verstorbenen Lover Wiktorias, welcher der Vater ihres Kindes sein könnte, redet ihr herein. Und dann meldet sich auch noch das ungeborene Leben, sie wird es später Wiktor nennen, zu Wort. Einzig bei einer Kommilitonin findet sie Verständnis, stößt bei dieser mit ihrem lesbischen Begehren allerdings nur auf freundschaftliche Gegenliebe. Bei der Niederkunft schließlich sind die Eltern und weitere, fremde Personen anwesend, die gesellschaftliche Forderung nach Nachwuchsproduktion verkörpernd. In all diesen Wechselspielen findet sich Wiktoria hin und her gerissen und ist einem gesellschaftlichen Definitionszwang ausgesetzt, einem Diktat zu Eindeutigkeit und Bestimmbarkeit, das in der Forderung des Vaters kulminiert, endlich einen Namen zu finden für diese ihre Generation, in der jeder jemand anderes sein will.

Mutterland ist eine Auseinandersetzung mit dem feststellenden Zeitgeist. Das Stück spiegelt das Gerede von kulturellen wie persönlichen Identitäten, Leitkulturen und kontingenten Traditionen. Die permanent wechselnden Ebenen, das Springen von Vergangenheit in Traum, gegenwärtige Selbstgespräche und reale Situationen geben das Fragmenhafte des unteilbar scheinenden Individuums wider. In den nicht immer sofort erkennbaren Übergängen scheint Wiktoria beispielhaft für den spätmodernen Menschen als Dividuum auf. Mit erstaunlicher Leichtigkeit gräbt sich das zeitgenössische Stück auch durch Identitätspolitik und Genderdiskurse und bleibt doch unabstrakt und von großer Verständlichkeit.

Ein Glücksfall ist es wohl zu nennen, dass dieser inspirierende Text in der LOFFT-Inszenierung eine bestechende Umsetzung findet. Ohne Kulissenwerk wird die ganze Bühne zum frei bespielbaren Raum. Einzig ein schwarzes Sofa steht in der Mitte und wird durch einem 180-Grad-Dreh zur Wartebank. Die wenigen benötigten Requisiten werden von der Decke herabgelassen. Während der gesamten Aufführung tritt keiner der Schauspielenden ab. Die gerade nicht auftretenden nehmen an den Rändern der Spielfläche Platz und erzeugen mit ihrer Präsenz sowohl eine intensive Spannung wie das Gefühl der Simultanität. In ihrem Spiel überzeugen alle Mitwirkenden und erschaffen mit vielerlei Zungen und Stimmen ein virtuoses wie intensives Sprechtheater.

…diese schwache Identität, die wir uns zulegen, indem wir uns eine Maske aufsetzen, ist selbst nur Parodie. Sie kommt im Plural vor, zahllose Seelen streiten darin, die Systeme überkreuzen einander, machen sich gegenseitig die Vorherrschaft streitig.
Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie

(Tobias Prüwer)

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