Wiedereröffnung der Oper Leipzig: Bei „Rienzi, der letzte der Tribunen” glänzt bestenfalls die Musik (Ingo Rekatzky)

Richard Wagner: Rienzi, der letzte der Tribunen
Oper Leipzig
Musikalische Leitung: Axel Kober
Inszenierung: Nicolas Joel
Bühne & Kostüme: Andreas Reinhardt
Choreinstudierung: Sören Eckhoff
Mit: Stefan Vinke, Marika Schönberg, Pavel Kudinov, Elena Zhidkova, Jürgen Kurth u.a.
Chor der Oper Leipzig & Gewandhausorchester
Premiere: 11. November 2007


„Rienzi, du bist fürchterlich!“ – Zur lang ersehnten Wiedereröffnung der Leipziger Oper mit Wagners Jugendwerk Rienzi, der letzte der Tribunen glänzt bestenfalls die Musik

Kaum eine zweite Leipziger Premiere wurde in den letzten Jahren so spannungsvoll erwartet wie jene von Richard Wagners Jugendwerk Rienzi, der letzte der Tribunen, mit der jetzt nach gut zehnmonatiger Sanierung das Opernhaus wiedereröffnet wurde. Und in der Tat ist unter strengen denkmalpflegerischen Auflagen zumindest der Etat von 9,5 Millionen Euro gut investiert worden. Die detailverliebte, prunkvolle Innengestaltung der Leipziger Oper – als einziger vollendeter Theaterneubau eines untergegangenen Staates auch Artefakt für dessen Ideologie – strahlt in ungeahntem Glanze, wirkt aber dennoch altvertraut, während der Zuschauer allzu schnell den durch die Verringerung der Platzkapazität gestiegenen Sitzkomfort zu schätzen weiß. Trotz aller Eröffnungseuphorie wird sich bei manch einem aber auch die stille Hoffnung eingestellt haben, dass nach der Sanierung nicht nur das Haus gleich einem Phönix aus der Asche ersteigen, sondern sich – hinsichtlich Repertoire und Regiehandschriften – ebenfalls eine konzeptionelle Neuorientierung der Oper Leipzig einstellen mag, die Aufgabe eines Stadttheaters und selbstgesetztem überregionalen Anspruch gleichermaßen gerecht wird.

In diesem Sinne ist es durchaus mutig, das Opernhaus in Wagners Geburtsstadt mit Rienzi wiederzueröffnen, dessen Dresdner Uraufführung ihm 1842 den ersten öffentlichen Erfolg bescherte. Zu Lebzeiten des Komponisten viel gespielt, hat er seine „große tragische Oper“, deren Musik und Handlung noch überwiegend in der Tradition der „Grand Opéra“ Meyerbeers steht, später selbst zur Jugendsünde erklärt und nicht in den Bayreuther Kanon aufgenommen. Dass der Rienzi vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch selten den Weg ins Repertoire gefunden hat, ist allerdings nicht nur der Distanzierung Wagners sowie dem allgemeinen Vorwurf der musikalischen Epigonalität, sondern in entschiedenem Maße auch der Wirkung der Oper geschuldet, die gerade von der nationalsozialistischen Propaganda instrumentalisiert wurde.

Allein diese dunkle Rezeptionsgeschichte des Rienzi stellt heutzutage jeden Regisseur vor eine große Herausforderung, die in Leipzig dem designierten Direktor der Pariser Oper Nicolas Joel und seinem Ausstatter Andreas Reinhardt anvertraut wurde. Joel scheint dieser Problematik begegnen zu wollen, indem er Rienzi nicht zum tragischen Helden verklärt, der – trotz ursprünglicher Ideale – seiner eigenen Widersprüchlichkeit und gesellschaftlichen Intrigen zum Opfer fällt, sondern ihn a priori als eingespieltes Rädchen in einem korrupten Gefüge zeigt. Lediglich sein weißes Habit hebt ihn anfangs vom Einheitsgrau der Nobili und Plebejer ab und lässt ihn vor Volk und päpstlichem Legat als Autorität wirken, ungeachtet dessen, dass er seiner Schwester Irene von bewaffneten Schergen eskortiert zur Hilfe eilt. Nachdem Rienzi den Tumult beilegen konnte, genügt eine kleine Handbewegung, um mit ostentativer Bescheidenheit in sein Amt gedrängt zu werden.

Eigentlich ein legitimer wie interessanter Ansatz, würde sich Joel nicht allzu sehr auf diesen Gedanken verlassen, sondern – gerade bei einem heiklen Werk wie dem Rienzi – auch Differenzierungen oder gar Entwicklungen aufzeigen. Statt eine konsequente Personenregie zu erarbeiten, begnügt er sich jedoch mit schematischen Auf- und Abgängen sowie einem Mindestmaß an konventionellen Operngesten in Rampennähe, sodass er dem Verhältnis der drei Protagonisten Rienzi, Irene und Adriano viel schuldig bleibt, Solisten und Chor darüber hinaus häufig unbeteiligt wirken. Offensichtlich interessiert Joel das Erzählen individueller Schicksale oder geschichtlicher Prozesse aber nicht im Geringsten, obwohl seine Inszenierung explizit eine siebenjährige Handlungszeit behauptet und selbst die – einschließlich Pausen – auf rund vier Stunden gekürzte Oper hierzu noch genügend Freiraum böte. Vielmehr konfrontiert er sein Publikum von vornherein mit vollendeten Tatsachen, sodass spätestens zu Beginn des zweiten Aktes alles gesagt ist: Im signifikant unreflektierten Widerspruch zur Musik wird der Friedensbote unter Waffengewalt zur frohen Kunde vom freien Italien gezwungen (immerhin kann Gabriele Scherer mit hellem, koloraturreichem Mezzo ein wenig über die szenische Statik hinwegtrösten), während Rienzi und sein jovialer Plebejer-Club sich nicht nur am Bewusstsein der eigenen Macht berauschen. Warum das Volk dem narzisstischen Demagogen allerdings noch fast zwei lange Akte treuvergeben ist, versucht die Inszenierung ebenso wie den späteren Meinungsumschwung in keiner Weise zu beglaubigen. Der Versuchung, eine in der Musik vorgegebene Entwicklung aufzuzeigen, entgeht der Regisseur konsequent durch eine Aneinanderreihung holzschnittartiger Standbilder, deren handwerkliche Unbeholfenheit – meist stürzt der Chor auf die Bühne, verharrt dort mit bestmöglicher Sicht auf den Dirigenten und geht nach beendigtem Einsatz ebenso unvermittelt wieder ab – den zahlreichen Massenszenen als Erbe der „Grand Opéra“ kaum zur Ehre gereichen. In ihrer Plakativität erregen diese Tableaus mitunter gar Unbehagen: Nahezu in Reih und Glied führen drei Fahnenträger in die Schlacht, indessen die weibliche Bevölkerung – Nonnen und Hausfrauen zu gleichen Teilen – kniend die gefalteten Hände gen Himmel reckt und um Beistand für „Romas Söhne“ bittet, jedoch erst eine Ostentation der Gefallenen und Verwundeten bemüht ist, jenen vom heutigen Standpunkt verheerenden Wortlaut der Schlachtrufe zu bebildern.

Düstere Lichteffekte und ein wenig Nebel werden zunehmend zum bevorzugten Leitmotiv und sollen wohl verschleiern, dass sich Joel einer konsequenten interpretatorischen Haltung, geschweige denn Stellungnahme gegenüber diesem dramaturgisch widersprüchlichen Werk mit zweifelhafter Rezeptionsgeschichte verweigert, worin ihm sein Ausstatter Andreas Reinhardt nach Kräften unterstützt. Per Schriftzug wird im ersten und letzten Akt eine Handlungszeit zwischen 1347 und 1354 im mittelalterlichen Rom beansprucht, was beide aber weder daran hindert, die unfreiwillig burleske Entführung Irenes vor einem Kupferstich der Stadt aus dem 18. Jahrhundert spielen, noch einen bunten Kostüm-Mix aufmarschieren zu lassen: Der päpstliche Legat (solide: Christopher Robertson) scheint im vollen Feiertags-Ornat gerade einer Prozession, die Nobili hingegen einer Operette entsprungen zu sein, während die Plebejer mit Hut und Trenchcoat an einen Gangsterfilm der Nachkriegszeit erinnern und – trotz geladener Maschinengewehre – über weite Strecken auch einen ähnlich harmlosen Eindruck hinterlassen. Einzig Rienzi tritt – sei’s als Zeichen seines eigenen Anachronismus‘, sei’s, weil es sich für einen Heldentenor zu gehören scheint – meist im Brustpanzer auf. Einen zusätzlichen Augenreiz bilden ab dem dritten Akt Roms Prachtbauten im Puppenstubenformat, wobei auch hier – verwiesen sei auf den Petersdom in seiner barocken Gestalt – nicht immer historische Sorgfalt gewaltet hat.

Am Deutlichsten offenbaren sich die programmatischen Schwächen der Inszenierung im fünften Akt, in dem sie Rienzis Gebet an den „Allmächtgen Vater“, sein begonnenes Werk möge nicht vorzeitig beendet werden, als musikalisch-dramatischer Vorlage wohl nichts entgegenzusetzen weiß. Ein introvertierter, von Selbstzweifeln zerrissener Tribun wird unvermittelt vom Täter zum Opfer stilisiert, seine einstigen Anhänger entflammen in meuchelmörderischer Absicht das Modellbau-Kapitol, Rienzi, Irene und der abtrünnige Adriano sinken – zumindest im Tode vereint – leblos zu Boden, die aufständigen Plebejer sollen ihnen aber alsbald folgen. Niedergeschossen von den bisher nur passiv beobachtenden Schergen türmen sie sich – auch sie alle nur Opfer einer verborgen wirkenden, mafiösen Struktur? – zu einem Leichenberg, allein der Zuschauer bleibt ratlos zurück.

Musikalisch präsentiert sich die Wiedereröffnung der Oper Leipzig dem Anlass weitaus angemessener, auch wenn das Blech in zahlreichen Passagen nicht verhehlen kann, dass es sich nach zehnmonatiger Abstinenz erst wieder im Orchestergraben akklimatisieren muss. Axel Kober, der als neuer Stellvertreter des Generalmusikdirektors den Titel Musikdirektor tragen darf, stellt sich in gewohnter Weise in den Dienst der Sache. Präzise und klanglich ausgewogen, führt er das in den Streicher- und Holzbläsergruppen fabelhaft disponierte Gewandhausorchester durch die mitunter sperrige Partitur, die nur hie und da nach Wagner klingt, scheut sich aber auch nicht, deren Brüche offenkundig werden zu lassen. Einen Tenor für die kräftezehrende Titelrolle zu finden, dürfte selbst größeren Häusern schwer fallen, an der Oper Leipzig hat man ihn hingegen im eigenen Ensemble. Stefan Vinke schont seine enormen Ressourcen nicht und meistert die Partie ohne Konditionseinbrüche, im Gegenteil: Während ihm die Mittellage des ersten Aktes bisweilen noch ein etwas kehliges Intonieren abverlangt, blüht sein metallische Timbre im Verlauf des Abends geradezu auf und überrascht – nicht nur im Gebet „Allmächtger Vater“ – immer wieder mit lyrischer Kantabilität. Darüber hinaus lässt er – obwohl es nicht nur für ausgewiesene Kenner der Partitur in ennuyierender Weise berechenbar ist, wann Rienzi wieder den Souffleur-Kasten zwecks Volksansprache betritt – hie und da szenisches Potential aufblitzen. In der Hosenrolle des Adriano beweist Elena Zhidkova, dass ihr einmal eine große Zukunft im dramatischen Mezzo-Fach bevorstehen könnte. Der innere Konflikt ihrer Partie zwischen Liebe zu Irene, Loyalität zu Rienzi und Familienehre gestaltet sie klug modulierend mit immensem Stimmspektrum. Marika Schönberg geht als Irene ihren ersten Ausflug ins Wagner-Fach behutsam an und harmoniert vor allem in den gemeinsamen Passagen mit Zhidkova. Wie sie allerdings ihrer Zerrissenheit zwischen Gatten- und Bruderliebe – halb im Wahn, halb sonnambul – Ausdruck verleihen muss, lässt die Absenz eines Regisseurs deutlich verspüren. Als Anführer der Plebejer überzeugen Martin Petzold (Baroncelli) und Thomas Oertel-Gormanns (Cecco del Vecchio) durch textverständliche Präzision, während die Nobili von Pavel Kudinov (Steffano Colonna) und Jürgen Kurth (Paolo Orsini) blass bleiben.

Das musikalisch größte Erbe der „Grand Opéra“ hat der gehörig aufgestockte Chor der Oper Leipzig zu tragen, der dank Sören Eckhoffs vorzüglicher musikalischer Einstudierung einmal mehr einen Spitzenplatz in der ersten Liga beanspruchen kann, szenisch aber völlig unterfordert bleibt. Und so überrascht es nicht im Geringsten, dass sich der enorme Jubel für den Chor auf Augenhöhe mit jenem für Vinke, Zhidkova und Schönberg bewegt, während Joel und Reinhardt in Grund und Boden gebuht werden.

Dass die Inszenierung kaum etwas zur Ehrenrettung einer verfemten Oper beitragen konnte, ist aus mehreren, ineinandergreifenden Gründen ärgerlich: Eine konsequente Regiehandschrift hätte gerade in produktiver Reibung zum heiklen Werk interessantes zeitgenössisches Musiktheater hervorbringen können, was nicht nur der Geburtsstadt Wagners – wo, wenn nicht hier, sollte man sich mit den Jugendwerken auseinandersetzen -, sondern auch deren Opernhaus als programmatischem Start nach der Sanierung gut zu Gesichte gestanden hätte. 2013, zu Richard Wagners 200. Geburtstag, will die Oper Leipzig abgesehen vom Ring alle Bühnenwerke des Komponisten zur Aufführung bringen. Ob sich dieser Rienzi allerdings so lange im Repertoire halten kann, werden schon die nächsten Spielzeiten zeigen.

(Ingo Rekatzky)

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