Müllstation, Größenwahn, Restbestand

Der Punk in der DDR fand nicht nur in Ostberlin statt

Wenn man an Chaostage denkt, so fällt den meisten zuallererst Hannover und das regelmäßig gewaltsame Aufeinanderprallen von Staatsmacht und Iro-TrägerInnnen ein. Wer hingegen nach dem ersten Punk-Festival in der DDR fragt – also quasi der ostdeutschen Variante der Hannoveraner Verhältnissen – erntet meist nur ein Achselzucken oder als fragende Antwort ein gelangweiltes „Ost-Berlin“. Tatsächlich aber haben sich die seit Ende der 1970er Jahre auch im real existierenden Sozialismus formierenden Punks zu ihrem ersten großen Festival in Halle an der Saale getroffen. Gastgeber an diesem 30. April 1983 war die Christuskirche, die Bands wie Größenwahn, Planlos, Restbestand, Wutanfall und Namenlos eine Bühne bot.

Dieser Nachmittag war sicherlich einer der Höhepunkte des subkulturellen Treibens dieser Zeit in Halle, und Mark M. Westhusen, Hallenser Punk der ersten Stunde, beginnt damit auch seinen 58-seitigen Artikel in dem Buch, das eben jener Szene gewidmet ist: Von Müllstation zu Größenwahn. Punk in der Halleschen Provinz. Bekennend subjektiv berichtet er über die Erlebnisse jener Zeit, über erste Hausbesetzungen und Ärger mit Stasi, Volkspolizei und später Skins, deren Anfangsgeneration sich ebenfalls aus der Punk-Szene rekrutierte. Westhusen schafft damit den Einblick in die Lebenswelt einer jugendlichen Subkultur, die in dieser Form das Jahr 1984 nicht überlebt hat. Damals hatte die Staatsmacht in einer Art konzertierten Aktion und mit den Maßnahmen Gefängnis, Ausweisung und Wehrdienst die Gründerszene nachhaltig zerschlagen. Zwar war der Punk in der DDR damit nicht erledigt, aber er wurde stärker zu einer jugendlichen Mode denn zu einer ganzheitlichen Lebenseinstellung. Westhusen beschreibt auch diese Phase weiter, konzentriert sich auf die Entwicklung der Skin-Szene oder die ersten künstlerischen Gehversuche Marco Götzes, der unter anderem das Plakat für den Evangelischen Jugendabend am 30. April 1983 gestaltet hatte.

Einen eher wissenschaftlich-externen Blick richtet der Kultursoziologe Bernd Lindner auf das Phänomen der Hallenser Punks. Er wertet in seinem Buchbeitrag nicht nur Stasi-Akten aus, denn die Sammelwut der Abteilung Horch und Guck sorgt dafür, dass die Ost-Punks eine der am besten vermessenen Jugendbewegungen überhaupt ist. Betrachtet werden auch Zeitzeugeninterviews, die er freilich nur als Belege und Bebilderungen seiner wissenschaftlichen Thesen heranzieht. Lindner beleuchtet die Kriminalisierungsstrategien durch Stasi und Volkspolizei, erläutert die Systematik der Vorladungen „Zur Klärung eines Sachverhalts“, die zumeist eine längere Zeit in einer Polizeizelle nach sich zogen und der Informationsbeschaffung der Sicherheitskräfte, aber auch der Zermürbung des ideologischen Gegners dienen sollte. Außerdem nimmt Lindner eine Analyse der schwierigen Gemengelage zwischen Kirche und Punks vor – sie nutzten immerhin mehrheitlich kirchliche Räume für ihre Veranstaltungen – und wagt sich sogar an die Interpretation von Songtexten (die durch die Stasi alle sehr ordentlich dokumentiert sind).

Beide Texte stehen im komplementären Verhältnis zueinander und ergänzen sich wunderbar an der ein oder anderen Stelle. Zudem runden zahlreiche Fotografien aus jener Zeit das Buch ab, wobei es sich nicht nur um Dokumente der Punks selbst, sondern auch um ihre Sicht der Dinge auf die sie umgebende DDR-Spießigkeit handelt. Ein schön gemachtes, aber leider viel zu kurz geratenes Büchlein.

Bernd Lindner & Mark M. Westhusen: Von Müllstation zu Größenwahn. Punk in der Halleschen Provinz
Hasen Verlag
Halle an der Saale – 2007
100 S. – 10 Euro
www.hasenverlag.de

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