Allerneustes aus dem Leipziger Musikgeschehen

Initiative für aktuelle Musik beim Hof Klang 08 mit Studierenden der Musikhochschule

Im Interview bei seinem jüngsten Werk lines (II) beklagt der Komponist Bernd Franke einen fast musealen Umgang im heutigen Musikgeschehen, Neues und Innovatives hat es schwer auf dem Weg in die Tempel der Hochkultur. ‚Hof Klang©‘ ist eine Initiative, die ein Konzept gegen die augenscheinliche Neue-Musik-Verdrossenheit setzt. ‚Hof Klang©‘ geht es darum das Publikum aus ihrer heutigen Lebenswirklichkeit abzuholen, es geht darum Programme zu konzipieren, die unakademisch das sinnliche Erlebnis in den Vordergrund stellen und einen Erinnerungswert haben. Mit ihrem programmatischen Ansatz „Wie klingt der Hof?“ beziehen die Initiatoren um den künstlerischen Leiter Steffen Kühn zudem ihr Publikum in den Diskurs um die optimalen Aufführungsbedingungen mit ein. Der bisherige Aufführungsort, die ehemalige Pelzmanufaktur Selter in der Nikolaistraße 47, bezaubert durch einen himmelblau gekachelten Innenhof. Im Hof befinden sich vier Balkone, die dazu einladen die üblichen klassischen Aufführungsbedingungen aufzubrechen. Jedes Jahr wird während der Probenarbeit der für das jeweilige Stück klanglich ideale Standort für die Instrumente und die Sänger gesucht. In diesem Jahr konnte die Gesellschaft für Kunst und Kritik e.V. überdies durch einen Kompositionsauftrag an Bernd Franke die Frage nach dem idealen Klang direkt in den Schaffensprozess eines neuen Werkes transportieren.

‚Hof Klang© 08‘ knüpft konzeptionell an das Programm des Vorjahres an und beginnt mit einer Komposition des italienischen Klangkünstlers Giacinto Scelsi. Sein Stück Okanagon ist eine von asiatischen Einflüssen inspirierte Komposition. Die Harfe legt einen geheimnisvollen fast surrealen Teppich, indem Metallstäbe über die Saiten huschen. Es entsteht eine etwas überirdische Atmosphäre in Verbindung mit dem Tam-Tam, welches auch mit Metallstäben arbeitet. Der von Tobias Lampelzammer kräftig und energisch bearbeitete Bass stützt dieses hauchdünne Gespinst. Ein Stück wie geschaffen, die Hörnerven zu sensibilisieren und die Ohren weit zu öffnen. Die Musiker agieren im Hof unter den Balkonen noch gut sichtbar für das beidseitig des Hofes angeordnete Publikum.Lines (II), eine der Uraufführungen und der Höhepunkt des heutigen Abends, bedient sich dann nur zu gern der räumlichen Möglichkeiten des himmelblauen Hofes: auf der Bühne das Schlagzeug, die Violine, der Bass und die Sopranstimme. Trompete und Klarinette befinden sich in schwindelerregenden Höhen auf den oberen Balkonen, das Cello darunter vis-á-vis dem Publikum. Aber nicht nur räumlich hat Bernd Franke die Vorlage des Aufführungsortes benutzt. Der geschichtliche Hintergrund des Leipziger Brühls mit seinen vielen jüdischen Kaufleuten hat ihn inspiriert, in zwei Sätzen Fragmente aus einem Buch mit Synagogen-Gesängen zu zitieren. Diese Gesänge wurden von S. Lampl, dem Oberkantor der Jüdischen Religions-Gemeinde Leipzig herausgegeben. Bernd Franke beschreibt sein Werk unter anderem mit den Worten: „Lines (II) ist ein organisches Netz aus vielen verschiedenen Chiffren und Energieströmen, ein pulsierendes und schwebendes Klanggebilde aus verschiedensten Linien, welche sich zum Teil überlappen, vernetzen, stören, in Bewegung bringen, Spiralen bauen und Klangtürme, aber auch den Hof entdecken mit seinen Klang- und Energiemöglichkeiten.“ Das Bild von den Energieströmen beschreibt lines (II) sehr treffend, die Linien der einzelnen Stimmen laden sich auf, verebben, um sich dann zu vereinen oder echohaft hinterher zu laufen. Im Stück, was programmatisch auf einen Dirigenten verzichtet, sind die Musiker darauf angewiesen aufeinander zu reagieren, gemeinsam die von Franke in Teilen bewusst offen gelassene Partitur mit Leben zu füllen. Es entsteht der wunderbare Eindruck des gemeinsamen Musizierens und durch die Improvisationsanteile ein authentisches und einzigartiges Hörerlebnis. Der zum Teil sehr perkussiv eingesetzte Bass und das Cello erzeugen einen inneren Drive, der Jazzelemente enthält. Der Knabensopran gesungen von Elmar Kühn gibt den Puls für die singenden Linien der Violine vor, wird sobald überholt, bevor er als „das Echo auf das Echo“ wieder die farbigen Akzente der Komposition setzt. Über all dem kreisen und wirbeln die Klarinette und die Trompete, das Publikum ist wach, verfolgt mit sichtbaren Vergnügen das musikalische Geschehen, welches durch die wunderbare räumliche Dramaturgie etwas sehr Theatralisches hat. Stürmischer Applaus und ein sichtlich bewegter Bernd Franke.

Nach der Pause beginnt Cornelia Frederike Müller, CFM, mit einer elektroakustischen Annäherung an den Komponisten des zweiten Teils: Iannis Xenakis. Über gesampelte Elemente aus Psappha erzeugt sie live am Laptop Soundscapes, die mehr und mehr auch konkrete klangliche Situationen des Hofes mit einbeziehen. Am nachhaltigsten die Geräusche von Regentropfen, die eine für ‚Hof Klang©‘ wie auch für jede andere Open-Air-Veranstaltung begleitende Frage nach dem Wetter thematisiert. Freilich begegnen die Organisatoren von ‚Hof Klang©‘ auch dieser Thematik auf ihre eigene Weise, indem ausreichend Regencapes, natürlich in himmlischen Blau, zur Verfügung stehen. Müllers Komposition baut am Ende immer mehr Kontraste zu den beiden folgenden Stücken von Xenakis auf: Wo Xenakis auf Tempo setzt, bringt Müller slow motion, harmonische Linien bei Müller, dagegen dissonante Klanggespinste bei Xenakis.

Iannis Xenakis war griechischer Komponist, der später in Frankreich lebte und sich nach einer erfolgreichen Karriere als Architekt ganz dem Komponieren widmete. Steffen Kühn, selbst Architekt, erläutert, wie er Xenakis´ Schlagzeugstück Psappha auf gänzlich unkonventionelle Weise ins Programm genommen hat. Die Geräusche ballspielender Kinder im Hof, sich dabei faszinierend entwickelnde Echos, der knallige Widerhall der harten Wände haben die Lust geweckt den Griechen hier auszuprobieren. Davor spielt Tobias Lampelzammer allerdings noch eines der anspruchvollsten Stücke für Kontrabass solo. In Theraps lotet Xenakis alle möglichen Töne aus, die man auf einem Bass erzeugen kann. Lampelzammers Kontrabass, der aus dem Jahr 1760 stammt (von J.G. Gabbrielli, Florenz), stürzt aus übersinnlichen Höhen in die dissonantesten Tiefen. Energiegeladen lässt sich Lampelzammer vollkommen auf dieses Abenteuer ein. Die technische Schwierigkeiten völlig hinter sich lassend, taucht er den himmelblauen Klangraum in die schillernde Welt Xenakis´ genialer Komposition. Dramaturgisch richtig steht am Schluss Psappha für Schlagzeug solo. Fast die ganze Bühne nehmen jetzt Gerd Schenkers Trommeln, Pauken und anderer Schlagwerke ein. Mit vier Schlegeln ausgerüstet, beginnt er ein perkussives Feuerwerk. Immer wieder ändert sich in abrupten Wechseln der Rhythmus und die Intensität des Stückes und doch scheint sich durch alles ein verstörender roter Faden abzuzeichnen. Das herauszuarbeiten und in Partien höchster vertikaler Intensität den Hof in ein horizontales Flimmern zu versetzen ist einfach großartig, ist technisch auf Weltniveau, was das Publikum auch durch Begeisterungsstürme honoriert.

‚Hof Klang©‘ 08 hat an zwei Tagen weit über dreihundert Hörer erreichen können. Der Mitschnitt der nichtöffentlichen Voraufführung vom Vortag konnte heute bereits erworben werden, so dass der Hofklang noch weiter wirken kann und wirken wird. Das ist lebendige Musikkultur, die gerade in einer so traditionsbeladenen Stadt wie Leipzig unverzichtbar ist. Herr Dr. Schwerdtfeger, Geschäftsführer des Bach-Archivs und Schirmherr von ‚Hof Klang© 08‘, hat es in seinem Grußwort auch eingefordert: Traditionspflege nur im Sinne der Aufführung der historischen Stücke wird Mendelssohn und Bach nicht gerecht. Wo wären die beiden Heroen der Leipziger Musikgeschichte heute, wenn sie damals niemand aufgeführt hätte. ‚Hof Klang©‘ hat mit dem kreativen Ansatz in Leipzig eine neue Tür geöffnet, aktuelle Musik aufzuführen und zu fördern. Die Initiative wird übrigens ausschließlich durch private Förderer getragen, auch das ein wichtiger Ansatz in Zeiten leerer öffentlicher Kassen.

Hof Klang© 08
Initiative für Aktuelle Musik

Ehemalige Pelzmanufaktur Selter in der Nikolaistraße 47
Schirmherr: Dr. Dettloff Schwerdtfeger
Träger: Gesellschaft für Kunst und Kritik e. V.
Konzeption & künstlerische Leitung: Steffen Kühn
Organisation, Technik & Licht: Eik Stiefel
Harfe: Aline Khouri
Knabensopran: Elmar Kühn
Kontrabass: Tobias Lampelzammer
Soundkünstlerin: Cornelia Frederike Müller
Schlagzeug: Gerd Schenker
Studierende der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“

Teil 1
Giacinto Scelsi (1905-1988): Okanagon (1960) für Harfe, Tam-Tam und Kontrabass, 9′
Bernd Franke (geb.1959): lines (II) (2008) für Sopran und Ensemble (Kontrabass, Violine, Cello, Schlagzeug, Klarinette, Trompete), Uraufführung, 15′, Auftragswerk der Gesellschaft für Kunst und Kritik e. V.

Teil 2
CFM: Stapes (2008) elektroakustische Musik, Uraufführung, 8′, Auftragswerk der Gesellschaft für Kunst und Kritik e. V.
Iannis Xenakis (1922-2001): Theraps (1975-76) für Kontrabass solo, 9′
Iannis Xenakis: Psappha (1975) für Schlagzeug solo, 11′

4. Juli 2008
www.hofklang.de

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