Klischeesbruch

„Eine Nacht in Venedig“ ist eher eine laue Nacht

Die Wiener Operette Eine Nacht in Venedig ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Popularkultur des späten 19. Jahrhunderts innerhalb Europas scheinbar keine Grenzen kannte: Ein ostpreußischer und ein mitteldeutscher Librettist in Österreich machen sich kurzerhand eine französische Vorlage aus dem Jahr 1860 zu eigen. Dieser Stoff kolportiert in verzückter Italienseligkeit sämtliche Venedig-Klischees, die sich aus dem 18. Jahrhundert erhalten haben: Karneval, Markusplatz, ein Herzog, der einem Maskenball gibt. Mit von der Partie ist auch die gesamte intrigante Entourage der Commedia dell’arte, die dem hohen Herrn in einem Verwechslungsspiel nach altbewährtem Muster das Leben schwer macht. Das komplette Sammelsurium an erotisch knisternder, unstandesgemäßer Liebelei wird in diesem Libretto aufgefahren. Der Wiener Walzerkönig Johann Strauß setzt das französisch-österreichisch-italienische Potpourri schließlich in seinen berühmten wippenden und trippelnden Dreivierteltakt und garniert es mit seinen unverwechselbaren Melodien. Uraufgeführt wird das fertige Versatzstück im italienischen Gewand dann 1883 ausgerechnet in Berlin, der preußisch-militaristischen Hauptstadt des Kaiserreichs. Doch hier schwebten die Herzen bekanntlich nicht im Dreivierteltakt, sondern in der „Berliner Luft“ wurde im Viervierteltakt auf Zucht und Ordnung gedrillt. Ein solcher Mischmasch nationaler Ingredienzien war damals für waschechte Preußen schwer verdaulich und schlug manchem – weil die Bestandteile unvereinbar erschienen – offenbar gehörig auf den Magen. Kein Wunder, dass die Operette in Berlin durchfiel. Weil aber die Melodien von Strauß legendär zu werden begannen, behalf man sich mit einigen Bearbeitungen, um das Stück im Repertoire zu retten, wo es sich bis heute halten konnte.

Auch in der Musikalischen Komödie, wo diese Operette am 4. Oktober 2008 als Spielzeitauftakt im Haus Dreilinden zum ersten Mal in einer Neuinszenierung von Julia Riegel über die Bühne ging, greift man auf Bearbeitungen zurück, um der Nacht in Venedig Schwung und Tempo zu verleihen. Aufgeführt wird die musikalische Fassung, die der vor allem in der Weimarer Republik verehrte, bekannte Komponist Erich Wolfgang Korngold eingerichtet hat. Um die Dialoge überdies für ein heutiges Publikum genießbar zu machen, haben Julia Riegel und ihr Dramaturg Stephan Steinmetz eine Leipziger Spielfassung kreiert, die aktualisieren und variieren will, um eingefahrene Witze und Scherze mit einem neuen Anstrich zu versehen. Das gelingt in den Dialogen der drei intriganten Senatoren (Erwin Noack, Matthias Paarsch, Alexander Voigt), die ihre Frauen dem Herzog andienen wollen, um einen Verwaltungsposten zu ergattern. Ihnen legen Riegel und Steinmetz die passenden Stichworte in den Mund: Liechtensteiner Bankkonten, Verkäufe von Wasserwerksanteilen, Landesbankkrisen werden zu Pointen, um das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Gelungen ist auch der Einfall, ein sächsisches Touristenehepaar – Liselotte und Werner (Cornelia Hudl und Eberhard Eichner) – als neue Personen in das Stück zu integrieren, die als Leitfiguren wie die Zuschauer selbst, das Abenteuer einer Nacht in Venedig suchen und immer ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt wirken und als Ironiekonstanten in den unmöglichsten Momenten auf den Plan treten. Dass die verwickelten Liebesnetze des Stückes am Ende dem Herzog nur noch Liselotte als Errungenschaft dieser Nacht übrig lassen, ist eine willkommene und schlagfertige Idee.

Riegels Strategie, die Italienklischees dieser Operette einerseits zu bedienen, um sie im gleichen Atemzug ironisch zu brechen, weist zweifellos in die richtige Richtung und die von ihr verfolgte Leitidee, den Stoff mit einer gehörigen Portion Selbstironie zu gestalten, findet beim Publikum volle Zustimmung. Dazu trägt auch das Bühnenbild bei, ein Karussell als kleine Drehbühne, die bald Chambre separée, bald als Karussellüberhang Venedig-Kulisse für die berüchtigten Gondelfahrten ist. Schön, wie die große Gondelarie mit solchen kleinen Mittel zu einem packenden Eindruck verwandelt wird. Riegel spielt mit den Reisekatalogerwartungen und massentouristischen Erlebnissen der heutigen Venedig-Urlauber (überhöhte Preise, Tauben auf dem Markusplatz, Musik, Karneval?), um gleichsam durch die Hintertür diese Klischees ironisch zu brechen.

Allerdings geht dieser bemerkenswerte Weg zwar in die richtige Richtung, kann aber im Gesamtkonzept noch nicht vollständig überzeugen, weil das Zusammenspiel der einzelnen Elemente der Operette an einigen Stellen noch zu wenig harmoniert und der letzte Schwung und Pfiff des Ganzen vielfach noch fehlt. Die Pointen sitzen noch nicht filigran genug (wie beispielsweise in der Hello-Dolly-Aufführung der letzten Spielzeit), die Verbindungselemente zwischen den Szenen und Akten sind nicht immer glücklich gewählt, die Dialoge wirken hier und da noch zu schwerfällig und robust. Diese und andere Mängel werden vor allem im zweiten Teil des Abends auffällig. Zu diesem Eindruck trägt bei, dass die Choreographie der Massenszenen im zweiten Teil nicht wirklich schlüssig wirkt, was natürlich auch an der Sperrigkeit der Vorlage liegt. Aber vor allem liegt es an der Architektur des Ganzen: Die Bühnenkonstruktion steht der Bewegungsfreiheit der Ausführenden im Weg, dem Auge des Betrachters fehlt ein Haltepunkt, die Eindrücke verwischen.

Das italienische Sprechen der Makkaroniköche, Meeresfrüchteverkäuferinnen und Barbiere wirkt außerdem ziemlich aufgesetzt. Der Wille der Regisseurin, die Figuren als fehlerhafte Menschen darzustellen, die in erster Linie über sich selbst lachen können, ist stets erkennbar, aber nicht an jeder Stelle überzeugend. In musikalischer Hinsicht überdeckt das Orchester unter Karl-Heinz Zettl öfter die Sänger noch, worunter die Textverständlichkeit (auch der Chorpassagen) leidet. Außerdem bevorzugt Zettl straffe Tempi, die den Melodien und den Sängern nicht immer gut tun. Die solistischen Partien von Raphael Pauß (Herzog) bis hin zu Ruth Ingeborg Ohlmann (Annina) wirken dennoch durchgehend angemessen und solide und lassen die für die MuKo typische Mischung aus Spielfreude und Sanglichkeit erkennen. – Alles in allem wird diese vom Publikum im restlos ausverkauften Haus Dreilinden mit viel Beifall aufgenommene Inszenierung nicht nur zu Silvester und zur Faschingszeit zweifellos für ein volles Haus sorgen, aber in die Annalen der Strauß-Rezeption will und wird sie gewiß nicht eingehen.

Johann Strauß: Eine Nacht in Venedig
Operette in drei Akten
Inszenierung: Julia Riegel
Bühne & Kostüme: Caroline Neven Du Mont
Musikalische Leitung: Karl-Heinz Zettl
Mit: Raphael Pauß, Ingeborg Ohlmann, Folker Herterich, Sabine Töpfer, Sandra Danyella, Radoslaw Rydlewski, Andreas Rainer, Cornelia Hudl, Eberhard Eichner u.a.
Chor, Ballett, Extrachor & Orchester der Musikalischen Komödie
Musikalische Komödie, Haus Dreilinden
Premiere: 4. Oktober 2008

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