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Tanz ganz anders: Woyzeck – ou L’ébauche du vertige in der Choreographie von Josef Nadj

Wenn ein Theaterstück knapp 160 Jahre nach seiner Entstehung und in einer Inszenierung, die auch schon 14 Jahre auf dem Buckel hat, immer noch interessant ist, dann darf man wohl von einer zeitlosen Arbeit sprechen. Woyzeck – ou L’ébauche du vertige (Woyzeck – oder Der Entwurf des Taumels) von Choreograph Josef Nadj ist so ein seltenes Stück. Der Begründer und Leiter des Centre Choréographique National d’Orléans, der auch selbst in seinem gespenstischen Traum von Stück auftritt, hat mit seinem Woyzeck etwas wahrlich Sonderbares geschaffen.

Unter vollständigem Verzicht auf den dramatischen Text baut er einen sehr spielerischen und zugleich verdichteten Abend, der die zentralen Motive von Büchners fragmentarisch gebliebenem Werk aufnimmt und in einer ans Puppentheater angelegten Spielweise auf die Bühne bringt. Als groteske Figuren mit grün bemalten Gesichtern spielen die sechs Tänzer und eine Tänzerin in einer Orgie aus Erbsen, Tonklumpen, Sandhaufen und Messern Nadjs Entwurf des Taumels. Untermalt von Stummfilm-Musik schaffen sie als Puppen ihrer selbst mit zahlreichen Gimmicks, Gags und guten Einfällen einen sehr intensiven und kurzweiligen Abend, der auf seine Wurzeln im Tanz vor allem durch die Akrobatik und körperliche Genauigkeit seiner Protagonisten verweist.

Ansonsten fehlt tatsächlich vieles, was den zeitgenössischen Tanz auszeichnet. Statt einer großen, freien Bühne, die den TänzerInnen Platz gibt, ist bei Woyzeck alles vollgestellt mit Tischen, Türen und schräg konstruierten Stühlen. Wo die moderne Regie auf abwechslungsreiche Lichkonstellationen setzt, bevorzugt Lichtdesigner Raymond Blot kleine Nuancen und schreckt auch vor dem Einsatz nackter Glühbirnen auf offener Bühne nicht zurück. Statt der Feier des Körpers setzt Nadj auf die verschmierte Groteske. Ein kleiner, rustikaler und in zahlreichen Brauntönen ausgekleideter Raum ist der Dreh- und Angelpunkt des theatralen Treibens, in dem auch einzelne Szenen der literarischen Vorlage immer wieder durchschimmern, etwa wenn Woyzeck auf dem Tisch stehend den Hauptmann frisiert oder er sich den Erbsenernährungsplänen des Doktors unterwirft.

Jedoch kitzelt Nadj überall ein deutliches Mehr an Bühnenhandlung hervor, das in seiner grotesken Komik den ewigen Kreislauf der Unterdrückung und Erniedrigung umso deutlicher hervortreten lässt. Eine Feder wiegt da bald mehr als ein Mensch. Auf diesem Grat der heiteren Schwere balancieren die TänzerInnen sehr gekonnt und auch die seit der Uraufführung verstrichene Zeit hat der Inszenierung nichts anhaben können. Ein zeitlos-schöner Theaterabend weitab der gerade im Tanztheater oft zu findenden modischen Spielereien.

Woyzeck – ou L’ébauche du vertige

Im Rahmen der euro-scene Leipzig 2008
Choreographie: Josef Nadj
Tanz: Henrieta Varga, Guillaume Bertrand, Istvan Bickei, Denes Debrei, Samuel Dutertre, Peter Gemza, Josef Nadj

7. November 2008, Theater der Jungen Welt

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