Boston Stanley und das verschollene Manuskript

Der Thriller „Die Shakespeare-Morde“ spielt mit den verschiedenen Mythen und Theorien um die Person des englischen Schriftstellers

Der Inhalt des im List-Verlag erschienenen Thrillers Die Shakespeare-Morde ist schnell zusammengefasst: Die ehemalige Harvard-Wissenschaftlerin und Hamlet-Regisseurin Kate Stanley gerät in ein Abenteuer, bei dem es um die Suche nach einem verschollenen Shakespeare-Manuskript geht. Der Weg zum Schatz ist, wie soll es in einem Thriller anders sein, mit Leichen gepflastert. Dass die Morde den tragischen Toden von Shakespeare-Helden ähneln, ist ein weniger origineller Teil der Geschichte. Morde nach Literaturvorlagen gibt es unzählige, wie etwa Matthew Pearls großartiger historischer Krimi Der Dante-Club, und auch das Morden nach Shakespeare ist spätestens seit dem herrlich bösen und gnadenlos britischen Film Theatre of Blood von 1973 keine Innovation.

Der Krimiplot ist ohnehin nicht das, was die Stärke des Buches ausmacht. Die Autorin beschränkt sich auf relativ wenige Hauptpersonen und somit Verdächtige. Die Möglichkeiten des Wer-ist-der-Mörder sind sehr eingeschränkt, auch weil die Verlustquote recht hoch ist. Nicht nur die Morde selbst, auch das Motiv ist etwas theatralisch, aber insofern interessant, da die Geschichte einer Shakespeare-Tragödie nicht unähnlich ist. Auch in Hamlet, King Lear oder Richard III. gibt es eine überschaubare Personage, die in relativ kurzer Zeit auf buchstäblich theatralische Weise dezimiert wird. Und um dem dramatischen Rahmen noch eins draufzusetzen, teilt Carrell die Kapitel in fünf Akte mit Zwischenspielen ein.

Die Faszination des Werkes liegt allerdings in der Breite der bedienten Genres. Würde man die Shakespeare-Morde verfilmen, könnte man ebenso ein Road-Movie daraus machen wie eine Neuauflage von Indiana Jones mit einer Protagonistin. Kate Stanleys Odyssee führt von London nach Boston, in den Südwesten der USA und von Spanien wieder zurück nach London und Stratford, um in einem Showdown zu gipfeln, der sogar Züge eines Western hat. Er spielt sich dann wieder im Südwesten der USA ab. Gerade bei diesem Schluß drängt sich der Vergleich mit dem von Harrison Ford verkörperten Archäologen auf. Nicht zuletzt, weil es um etwas Historisches geht, das Manuskript von Cardenio, einem Werk Shakespeares, das in alten Quellen Erwähnung findet, aber nicht mehr erhalten ist. Auch die klassischen Abenteuergeschichten lassen grüßen, denn die Schatzsuche ist mit einer Reihe von Hinweisen, Briefen und rätselhaften Gegenständen und Verstecken verbunden. Diese Schnitzeljadt ist der besonders spannende Aspekt des Romans.

Doch die Autorin ist nicht umsonst promovierte Anglistin und Amerikanistin. Ihr Buch ist auch eine literaturtheoretische Auseinandersetzung mit der Frage, wer Shakespeare in Wirklichkeit war. In einem Spiel zwischen Fakten und Fiktion führt sie sämtliche Theorien ins Feld und vermittelt sie uns auf lehrreiche wie unterhaltsame Weise, ohne sich am Ende eine Antwort anzumaßen. Für den interessierten Shakespeare-Liebhaber eine kurzweilige Art der Vorlesung, für den durchschnittlichen Krimileser ohne literaturwissenschaftliche Ambitionen streckenweise mühsam durch die vielen ausgebreiteten Details. Alle Leser dürften dagegen die Zwischenspiele faszinieren, in denen Carrell Exkurse ins 16. Jahrhundert unternimmt und die Zeit Shakespeares lebendig werden lässt.

Insgesamt sind die Shakespeare-Morde ein sehr lesenswertes Buch, nicht zuletzt durch die wundervollen und eindringlichen Landschafts- und Atmosphärebeschreibungen und die schaurig-schöne Art des Erzählens. Diese hat Übersetzerin Sophie Zeitz wirkungsvoll vom Amerikanischen Englisch ins Deutsche übertragen.

Jennifer Lee Carrell: Die Shakespeare-Morde
List Verlag, Berlin 2008
646 S. – 19,90 €

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