Die Uni Leipzig wird 600

Der StudentInnenRat lässt es sich nicht nehmen, in seiner Rede zum Festakt auch den Umgang mit Geschichte zu thematisieren

gehalten von Simon Schultz v. Dratzig

Vážený pane spolkový prezidente,
Vážený pane ministerský predsedo,
Vážený pane primátore,
Vážený pane magnificence profesore doktore Häuser
Vaše Magnificence obeznámen univerzit,
Milí studenti,
Ctení hosté

Omlouvám se, že vás nevítám všechny jménem. Je pro me potešením, vás muže, zde pri této pro nás ne práve radostné príležitosti videt – se veselým oblicejem. Z celého srdce vám k tomu blahopreji.

Wer des Tschechischen mächtig ist, wird bemerkt haben, dass ich explizit nur Sie, meine Herren, begrüßt habe. Damit stehe ich leider in guter Tradition, denn erst 1906 wurden Frauen für ein Studium zugelassen und damit auch auf hochschulöffentlicher Ebene als denkende Wesen anerkannt. Inwiefern diese Anerkennung in unserer Gesellschaft schon vollständig abgeschlossen ist, werden Sie bei einem Blick auf die heutige Rednerliste bemerken.

Meinen Fauxpas möchte ich sogleich berichtigen:
Sehr geehrte Frau Köhler
sehr geehrte Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
sehr geehrte Frau Staatssekretärin des Auswärtigen Amts
sehr geehrte Damen Staatsministerinnen
liebe Studentinnen
sehr geehrte Damen
werte Festgesellschaft

Nicht nur auf der Universitätshomepage ist zu lesen, dass die Anfänge der Geschichte der Universität Leipzig außerhalb dieser Stadt zu suchen sind, auch kollektives Joggen und Radfahren zwischen Leipzig und Prag haben das körperbetont in Erinnerung gerufen. Beschränken wir uns hier jedoch auf das Internet – als entscheidendes Medium spiegelt es den herrschenden Diskurs am ehesten wieder. Sowohl in der alten Version der Webseite als auch in der zum Jubiläum neu erstellten ist der Auszug aus Prag nachzuvollziehen. Grund für diesen war das auf Tschechisch verfasste Kuttenberger Dekret, welches die damals herrschenden religiösen Konflikte verschärfte.

Wir feiern nun das 600jährige Jubiläum dieses Aufbruchs – der Gründung der alma mater lipsiensis – der Hochschule, die sich auch einmal Karl-Marx-Universität nannte. Ernst Bloch wurde einst wie folgt zitiert: „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich erinnert, was noch zu tun ist.“ Lassen wir zuerst die bewegte Geschichte dieser Institution also noch einmal an uns vorüberziehen, geben wir dem Jubiläum die Chance, das zu sein, was es ist: ein feierlicher Zeitpunkt um innezuhalten – um kritisch zu reflektieren – um die Vergangenheit postum in ihren Höhen und Tiefen zu betrachten. Die Feierlichkeit ist notwendig, um die aktuelle Situation im historischen Kontext zu analysieren – sie ist unabdingbar, um die zukünftige Entwicklung sinnvoll und mit Bedacht zu gestalten.

Die Erinnerung birgt ein großes Potential. Doch jedes Potential ist gleichzeitig ein Risiko. Wie steht es nun um unsere Bereitschaft als Festgesellschaft zur Aufarbeitung der eigenen Historie? Passen wir uns der eindimensionalen, eventorientierten Geschichtsauffassung an oder bevorzugen wir doch eine tiefere Auseinandersetzung mit kritischen Tönen? „Mundus vult decipi, ergo decipiatur“ oder „etiam si omnes non ego“.

Machen wir eine Bestandsaufnahme, wie das Existierende und das Vergangene im Rahmen des Jubiläums thematisiert werden.

Die akademische Aufarbeitung der eigenen Geschichte hat Potenzial. Stellvertretend für verschiedenste Publikationen seien hier die „Beiträge zur Leipziger Universitätsgeschichte“ genannt. Vorbildlich werden unterschiedliche Aspekte v.A. der jüngeren Geschichte aufmerksam analysiert. Neben Beiträgen zu universitätsübergreifenden Diskursen, wie etwa dem Fall der Universitätskirche St. Pauli, wird auch das Schaffen innerhalb der Fakultäten, wie z.B. der Ethnologie oder der Wirtschaftswissenschaft, unter einem kritischen Blickwinkel betrachtet.

Die fünfbändige Geschichte der Universität Leipzig ist insofern nennenswert, da sie einen Gesamtabriss über die 600jährige Geschichte der Universität bietet und hierbei bisherige Lücken zu schließen versucht.

Aber Jubiläen sind zum Glück auch zum Feiern da. Die akademische Aufarbeitung scheint abgeschlossen, das Jubiläumsprogramm soll ein Wohlgefallen sein. Wissenschaftliche Beiträge werden meist eher begrenzt rezipiert. Erinnern wir uns also in den übrigen Medien etwas komfortabler und streichen einige Passagen aus der Universitätsgeschichte. „Der NS-Studentenbund erreicht bei den Wahlen zum Allgemeinen Studentenausschuss die absolute Mehrheit. 1933 unterschreiben über 100 Professoren einen Aufruf zur Wahl Adolf Hitlers.“ Dieser Auszug wurde aus dem offiziellen Geschichtsteil der überarbeiteten Universitätshomepage getilgt; die dort übrig gebliebene Geschichtsdarstellung wird auf den reinen Opferaspekt reduziert – nicht nur zwischen 1933 und ’45. Drei Beispiele sollen an dieser Stelle genügen, um die Verharmlosung von Geschichte im Rahmen dieses Jubiläums darzulegen:

1. Das einzig Erwähnenswerte in der Zeit des NS-Regime waren an der Universität Leipzig das Leiden und der Verlust: Zuallererst litten die Studierenden, dann die Professoren und spätestens durch den Krieg auch Gebäude und Bücher. Weiterhin ist ein äußerst passender Ausspruch von Rektor Gadamer ausgesucht worden; ich zitiere: „Die Nazis waren Barbaren, die uns verachteten. Das hat uns Freiräume gegeben“. Verachtung von Barbaren ergibt Freiräume? Freiräume, in denen die Lehrenden das nationalsozialistische System stützten, wie etwa Rektor Golf, ab 1932 NSDAP-Mitglied, der es in einer seiner Reden als „eine wahrhaftige Erlösung gefunden [hat], dass uns endlich der Führer wurde“, was jedoch nicht angemerkt wurde.

2. Die dank der angeblichen Freiräume übrig gebliebene so genannte „Bürgerlichkeit“ der Universität und ihrer Mitglieder wurde danach laut offizieller Homepage von etwas der NS-Herrschaft gleich Geartetem bedroht. Diese Bedrohung manifestierte sich in einem „barbarischen Akt“ an der Paulinerkirche, an deren ehemaligem Standort wir uns gerade befinden. Unter einem sprachlichen Aspekt interessant ist die Veränderung am Verschriftungsverfahrens des Textes. Aus der nüchternen „Sprengung der im Krieg unversehrt gebliebenen Universitätskirche“, so die ursprüngliche Homepage, wird ein „barbarische[r] Akt [durch den] die im Kriege unversehrt gebliebene Universitätskirche St. Pauli […] weichen [musste]“. Bei einer allgemeinen Kürzung des Textes wird ein Ereignis mythologisierend überhöht und sprachlich dem politischem Willen nach Eindeutigkeit angepasst. Das Bauwerk wird so heute zum Märtyrer der geknechteten Universität und der Opfer der gesellschaftlichen Zustände. Es wird sich auf der überarbeiteten Homepage allerdings nicht mit den tatsächlichen Geschehnissen in der DDR befasst; die DDR wird nicht einmal namentlich erwähnt. Stattdessen wird allein ein moralisierter Stellvertreterkonflikt aufgezeigt. Dies ist befremdlich und bedenklich.
3. „Das Universitätsleben blieb bis zur friedlichen Revolution von 1989 […] durch eine politische Instrumentalisierung der Wissenschaft und Einschränkung der akademischen Selbstverwaltung geprägt.“ Ergo hat es die Staatsführung geschafft, die damalige Universität zu durchsetzen und extern zu leiten. Die Beteiligung von Universitätsangehörigen an den politischen Systemen wird nicht thematisiert. Der Unterschied zwischen den beiden angesprochenen Herrschaften liegt laut öffentlicher Universitätsdarstellung dort, wo die Ideologisierung der Nationalsozialisten erfolglos gewesen sei. Ex falso quodlibet – aus dem Falschen folgt das Beliebige.

Sehr geehrte Damen und Herren, die medienwirksame Jubiläumsgeschichte passt sich den aktuellen Trends an. Nicht nur, dass das offizielle Jubiläumsprogramm voll ist mit Aufarbeitungsveranstaltungen über die Geschehnisse 1989, was richtig und wichtig ist. Allerdings überstrahlt die friedliche Revolution und die Erleuchtung der Welt andere bedeutende Ereignisse nahezu vollständig.

An Jubiläen verändert sich der Umgang mit Geschichte. Es wird gewichtet, gewertet, durchdekliniert, herausposaunt, heruntergeredet, verschwiegen. Eine Kontinuität, eine Tradition wird konstruiert, nur um eine Einheitlichkeit zu schaffen, die als Fundament für eine glorreiche Zukunftsvision dienlich ist. Des Pudels Kern ist jedoch brüskierend: Die heraufbeschworene Einheitlichkeit existiert nicht. Da eine Universität keine Geschichte außerhalb von Gesellschaft besitzt, sondern nur innerhalb der Gesellschaft existieren kann, war und ist die Universität immer an Zeitgeist und Trends gebunden.

Der Zeitgeist vor einem Jahrhundert wurde vom damaligen Jubiläumsrektor Karl Binding in seiner zusammen mit Alfred Hoche verfassten Schrift gut getroffen. Der Titel „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ ist begriffsprägend und hatte in den folgenden Dekaden Einfluss auf die Politik, die ihn folgenschwer instrumentalisierte. Vielleicht um der Gefahr der öffentlichen Aufarbeitung dessen zu entgehen, tendiert der heutige Jubiläums-Trend zusehends in Richtung Protestbewegung und friedliche Revolution. Diese Erinnerung ist sehr bequem: Sie ist zeitlich nah, in Gedanken noch lebendig und zusätzlich positiv belegt – hat jedoch wenig mit der Universität zu tun. Im gleichen Atemzug wird die Zeit vor ’89 dämonisiert. Die Darstellung nivelliert die Gefahren für die Freiheit von Forschung und Lehre zur Zeit der DDR und zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Kriegs- und Zwischenkriegszeit werden fast vollständig verschwiegen, obwohl gerade diese der öffentlichkeitswirksamen Aufarbeitung bedarf. Bemerkenswert: Dieses Thema wird neben einer einzigen Überblicksveranstaltung nur im Vortrag „Kamerad Pferd – Das Pferd im Giftkrieg“ angerissen.

Sehr geehrte Damen und Herren, bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen und sehen, dass sich diese Universität in der Vergangenheit genau so viel oder so wenig mit Ruhm bekleckert hat wie jede andere Institution auf dieser Erde. Wir müssen unser Jubiläum nicht an eine marktorientierte Verwertungslogik anpassen. Viel wichtiger wäre, erst recht unter einem wissenschaftlichen Anspruch, eine kritische und vor allem öffentliche Aufarbeitung aller Geschehnisse des vergangenen Säkulums und vor allem die eigene Involvierung in Taten und Untaten. Eine reine Opferlogik und die komplette Tilgung der eigenen Täterschaft ist ein Geschichtsrevisionismus, der Fehl am Platz ist; erst recht zu einem Jubiläum. Es ist betrüblich, dass die Möglichkeiten zur Schaffung einer reflektierenden Erinnerungskultur, die ein Jubiläum und die schon vorhandenen akademische Aufarbeitung bieten, ausgeschlagen werden.
Jetzt wo wir in der Erinnerung an die Vergangenheit schon einiges vergessen haben, möchte ich Blochs Warnung ernst nehmen: „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich erinnert, was noch zu tun ist.“

Danke für Ihre Aufmerksamkeit
Tedy dobrý den!

02. Dezember 2009, Paulinum

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