Auch Leipzig hatte Expressionisten

Mit Rüdiger Berlit entdeckt die Stadt ihre eigenen Expressionisten und mit den Meisterblättern Ernst Ludwig Kirchners dessen grafisches Werk

Berlit – Bei der Toilette (Ausschnitt)

Ein weiblicher Rückenakt, die Linien und Farben so zart wie die junge Frau selbst, Lavendel ihr Kleid, Lavendel und Rosen sicher auch ihr Geruch, dann der Krieg, 1914, und Rüdiger Berlit ist nicht wieder zu erkennen. Unterhaltung ein Bild kruder Figuren, und starker Farben. Vier Männer in einem kahlen Raum – der Boden karminrot, die Wand wie ein Meer bei schlechtem Wetter. Zwei von ihnen sitzen auf kantigen Stühlen an dem dunkelblauen Tisch. Fischer könnte er sein, der den Tabaksbeutel in der Hand hält, die Pfeife aber liegt kalt daneben. Kahl ist sein gelbliches Haupt, rot sein Bart. Der andere am Tisch trinkt nicht aus seinem Glas; er stützt den Kopf auf seine Hand und schaut ins Leere – vielleicht zu uns, den Betrachtern. Die anderen beiden stehen verloren im Raum, einer gebeugt, die Hände in den hinteren Taschen der grauen Hose zur dreckig-weißen Tür gewandt. Die Beine aber leicht eingeknickt, die Füße nebeneinander. Zum Schritt, zur Tat keine Kraft, keinen Mut. Die andere Gestalt, ganz schmal, das Gesicht nur ein schwarzer Schatten, die Beine hören über dem Boden auf. Worüber unterhalten sie sich?

Außerdem bei Berlit Holz, Linol, Kaltnadel – Schwarz und Weiß, schwarze Tinte kommt auf weißes Papier, der sich aus der Technik ergebende Kontrast ist wie für den Expressionismus gemacht. In anderen Bildern biblische Motive – stille, immer abgewandte Gesichter – aber was für Farben: das Bild Noli me tangere – als ich davor stand und es dann anblickte, schlug es mir ins Gesicht. Maria Magdalena kniet nieder in grünem Gewandt und rotem Kopftuch, ein blauer Berg im Hintergrund, eine Palme mit rotem Stamm und ein grüner Himmel. Aber am stärksten finden sich diese beiden komplementären Farben im Mantel Jesus Christus‘ – breite, grüne und rote Streifen. Ein Signal. Der Name ist Programm – „Rühr mich nicht an!“

Ganz stimmt das nicht. Berlit hat nicht nur expressionistisch gemalt. Ja, er wurde politisch und er wurde für seine Beteiligung an einem kriegskritischen Büchlein mit anderen wegen Gotteslästerung angezeigt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber auch während des Krieges malte er Landschaftsbilder und Stillleben, die in ihren warmen Farben stärken und beruhigen.

(Bilder: Kirchner: © Brücke-Museum Berlin; Berlit & Müller: Mit freundl. Genehmigung des MdBK)

Heute aber? – Vergessen und verloren, dass Leipzig eine expressionistische Szene hatte. Keine prominente Gruppe wie „Die Brücke“ in Dresden und Berlin oder „Der Blaue Reiter“ in München. Nein, anstelle dessen kam es zur Schlägerei. Von der Gründungsveranstaltung für einen Gewerkschaftsverein Leipziger Künstler 1920 berichtete ein Anwesender: „Los mit Spazierknüppeln im Namen der Musen! Und zwanzig, dreißig, vierzig Versammlungsbesucher verdraschen immer feste druff das Häuflein Expressionisten.“ So schrieb denn auch der große Max Klinger in einem Brief an einen Freund: „Mit Entsetzen war ich heute in unserem Kunstverein. 50% unserer Leute von unserer Leipziger Jahresausstellung sind vom gleichen Fieber besessen.“ Tatsächlich war Berlit auch Experten wie Sammlungsdirektor Hüttel bis vor einiger Zeit noch unbekannt. Möglich gemacht wurde die Ausstellung nur durch großzügige Leihgaben aus einigen wenigen privaten Sammlungen.

Damit man gleich weiß, worum es geht – Kunst des Expressionismus – wurde Rüdiger Berlit noch Kirchner beigesellt. Das Ernst Ludwig kann man schon längst weglassen, so sehr steht hier pars pro toto – ein halber Name für einen ganzen Stil – für eine ganze Epoche. Seine Gemälde sind auf dem Kunstmarkt heiß umkämpft, andererseits sind sie nicht alles. Kirchner hat 20.000 Zeichnungen hinterlassen: „Ich muß zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen, dann nach einiger Zeit nur das Gute aussuchen. Die Technik ist zu schön“, schrieb er 1919 in sein Tagebuch; eine unheimliche Zahl, die zeigt, wie wichtig ihm die Zeichnung war. Schnell musste es gehen – die Komposition mehr erfühlt als durchdacht. Nur über sein Zeichnen lässt sich sein Malen erschließen, was eine Ausstellung seines grafischen Werks im Museum der Bildenden Künste überfällig werden ließ, das in seinem Magazin über einen weitgehend unbekannten grafischen Schatz verfügt.

Neben Berlit finden sich noch eine Reihe anderer Künstler wie Max Schwimmer, Arnold Schmidt-Niechciol und Hans Alexander Müller in der Ausstellung. Auch sie schufen Linol- und Holzschnitte, Lithographien und Radierungen mit Titeln wie: Nach der Prophezeiung der Hexen und Don Quixote. In ihrer Malerei unterscheiden sie sich stilistisch sehr von Berlit, allerdings nicht in ihrer Qualität. Von manchen der circa zwei Dutzend Leipziger Expressionisten weiß man jedoch nicht viel mehr als Geburts- und Todesdatum – wenn überhaupt.

Am besten stelle ich mir einen Besuch der Ausstellung vor, bei dem ich mich mit geschlossenen Augen von einem Freund von Bild zu Bild führen lasse, um erst dann, wenn er mich in richtigem Abstand und Winkel davor positioniert hat, die Augen zu öffnen. Ähnlich wie bei der Enthüllung eines Kunstwerkes – mit einem Ruck zieht der Künstler das schwere Tuch weg und ein Oh! und Ah! durchfährt die erschrockene, überraschte Menge. Keine Chance sich vorsichtig heranzupirschen. Keine Chance dem umherschweifenden Blick für einen ungefähren Eindruck, der allen Details und der Nahwirkkraft höhnt. Nicht Tropfen für Tropfen – nein, der Eimer kalten Wassers wird mit einem Mal über dem Haupt des Betrachters geleert.

Ernst Ludwig Kirchner. Meisterblätter aus dem Brücke Museum, Berlin

Rüdiger Berlit und der Leipziger Expressionismus

Ausstellungen

Jeden zweiten Mittwoch im Monat – so auch am 10. Februar – ist der Eintritt frei.

24. Januar bis 5. April 2010, Museum der Bildenden Künste Leipzig


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  1. Will Semm uns Annemarie Jakob haben Sie vergessen, Sie förderte die Leipziger Expessionisten besonders durch Ausstellungen in ihren Privaträumen.

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