„Halt die Fresse, du Fotze“

Ein junger Mensch mit kaputter Familie: Der Gastgeber zeigt seine aktuelle Produktion „Nachtblind“ – Werkstatt-Tage im Theater der Jungen Welt

„Nachblind“ im Theater der Jungen Welt (Foto: Frank Schletter)

Sie möchte mit ihm gehen, aber kann es ihm nicht zeigen. Weil sie eine bescheuerte Mutter hat, die es ihr auch nicht zeigen kann, außer wenn sie ihr Salbe auf den Rücken schmiert und sich dahinter verstecken kann. Sie sind kaputt – ihr feiger Bruder, ihre Mutter, der, der sie schlägt (sie nennt ihn „den Großen“) und sie. Sie ist Leyla, 15. Sie ist verletzt.

Jürgen Zielinski hat Nachtblind, das ausgezeichnete Erstlingswert der jungen Schweizerin Darja Stocker, am Theater der jungen Welt mit einer Eindringlichkeit inszeniert, die fesselt. Vor allem Elisabeth Fues als trotzig kämpfende Leyla reißt mit. So als würde sie einem die ganze Zeit fest in die Augen schauen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Leyla trifft Moe, der sich seinen Namen selbst ausgedacht hat, nähert sich ihm an, stößt ihn weg – ein ständiges Hin-und-Her. Ganz so wie es die riesige gelbe Halfpipe von Ausstatter Mathias Rümmler mitten im Bühnenbild illustriert. Einfache Lichtwechsel trennen die kurzen Szenen und teilen die Bühne in Leylas zwei Welten: Die Geleise, bei denen sie sich mit Moe trifft und die Wohnung, in der ihr Samy Deluxe hörender Bruder Rico herumpöbelt und ihre Mutter sich im Sportwahn auf dem Fitnessgerät vergisst. Martin Klemm spielt den Bruder Rico als Megacoolo, der Leyla eigentlich auch nur so mies entgegentritt, weil er nicht mit ihr zurechtkommt. Er versteckt sich hinter viel zu großen Kopfhörern, viel zu lautem Proll-Rap und nutzt Kissen statt Skateboard, um der Halfpipe beizukommen. Feigling. Das Nicht-miteinander-Zurechtkommen scheint in der Familie zu liegen. Vielleicht sollte die Mutter (Susanne Krämer) ihren Kindern lieber zuhören als sich eins nach dem anderen einzuschenken und einzuwerfen. „Glaubst du, ich sehe sie nicht? Die Dinger, die du frisst, damit du keinen Hunger hast. Damit du pennen kannst. Damit du keine Lust mehr auf Sex hast. Damit du fröhlich bist. Mir scheint, du bist langsam durchgeknallt, Mama“, brüllt Leyla sie an.

Susanne Krämers Mutter-Figur ist stark überzeichnet, eine ironische Karikatur. Das funktioniert nicht ganz, bietet die Textvorlage doch auch hier genügend Material für Ernsthaftigkeit. Moe ist Leylas Gegenpool, angenehm zurückhaltend gespielt von Sven Reese. Sein Moe lässt sich nie aus der Ruhe bringen und beweist sogar Taktgefühl, als die Mutter Leyla einmal auf den Geleisen besucht, um allein mit ihr zu sprechen.

Schon der Text beschreibt einfühlsam Leylas prekäre Lage zwischen Feigling, Alkoholikerin und Schlägerfreund. Zielinski und seinen Schauspielern gelingt es, die Figuren ganz nah an uns heranzuholen. Eine ergreifende Inszenierung.

Nachtblind

Von Darja Stocker

Beitrag des Gastgebers Theater der jungen Welt

Anlässlich der 17. Werkstatttage der Kinder- und Jugendtheater

28. September, 20.30- 21.45 Uhr, Theater der Jungen Welt


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