Ich Macht. Du Macht. Er Sie Es Macht

Mit „Twee stemmen“ gastierte die niederländische Gruppe NTGent bei der euro-scene und zeigte ein Gelage der Mächtigen

Essen allein ist Selbstmord, wusste schon Pasolini (Fotos: Phile Deprez)

Ein paar rote Lackslipper stehen allein unter einem Metalltisch. Auf der rotweinbefleckten Tischdecke finden sich Anzeichen eines Gelages: Halbvolle Hochprozentige, jegliche Arten von Gläsern, benutzte Teller, zerknüllte Servietten, wild umherliegende Stühle. Es sieht so aus, als hätten sich zehn Menschen besoffen, aber keiner ist mehr physisch anwesend. Keiner außer Jeroen Willems, der fünf der Körperlosen wieder zum Leben erweckt, sich geradezu in sie verwandelt. Das Gelage von vorweg tut dabei nichts zur Sache, nur dass die Idee zur Bühne aus dem Text Essen allein ist Selbstmord von Pier Paolo Pasolini stammt. Ebendieser liefert auch den größten Teil der Textvorlage von Twee stemmen. Das Stück wurde am 11. April 1997 in der Regie von Johan Simons im Toneelschuur in Haarlem, Niederlande uraufgeführt. Ursprünglich als Zweimannstück geplant, entschied man sich im Probenprozess gegen „zwei Stimmen“, aber für den Titel.

Was haben nun ein körperloser Intellektueller, ein Unternehmer, ein Topmanager in roten Lackschuhen, ein Kleriker und der Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns gemeinsam? Macht. Sie alle haben Macht. Sie alle haben davon reichlich. Auf Grundlage der Texte Pasolini’s und einer Rede des damaligen Vorstandsvorsitzenden von Shell International Cor Herkströter aus dem Jahr 1996 schlüpft Willems nacheinander in jede der fünf Machtformen und stellt deren Missbrauch und seine Rechtfertigung aus. So wird jede Figur zu einem gänzlich eigenen neurotischen Charakter, zwischen denen Interaktion nicht ausgeschlossen ist. Das Gelage ist dabei Kulisse der Verbindung.

Dass es auch unter Mächtigen eine Hackordnung gibt, verspürt der Intellektuelle physisch: Nicht nur die Tischdecke ist irgendwann rotweinbefleckt. Er ist der Loser, der (real existierende) Vorstandsvorsitzende der Winner. Wenn Willems den Mächten ein Gesicht gibt, verbleibt er konsequent in (s)einem Charakter und lässt verschachtelte Schwadronaden über dem Zuschauer fallen, denen man auch mit äußerster Anstrengung nicht folgen kann. Durch Willems präzise gesetzte Körpersprache reichen diese Fetzen jedoch aus, um die Widersprüchlichkeit und die Absurdität im Denken von Mächtigen und multinationalen Konzernen zu verstehen. Das Sex und Macht zusammenhängen, wird spätestens dann deutlich, wenn sich Willems als „dunkle Macht“ eine Perücke überzieht, in schwarze Wildlederpumps steigt und dem imaginären Unternehmer unter dem Tisch sexuelle Dienste leistet, sich auf dem Tisch räkelt oder an umstehenden Säulen Zungenspiele vollführt. Wie hypnotisierend hält Willems dabei stetig Augenkontakt zum Publikum und lässt es sich unbehaglich als Voyeur fühlen. Das Handwerk Schauspiel in beeindruckender Vollendung.

Mit Sinn für Humor und Detailfreudigkeit wird die niederländische Produktion Twee stemmen bereits im 14. Jahr gespielt. NTGent absolvierte Gastspiele in vielen Ländern Europas und gewann zahlreiche Preise. Willems spielt das Stück je nach Ort in deutscher, englischer, italienischer oder französischer Sprache. Als einer der bekanntesten niederländischen Schauspieler ist er immer wieder auch auf deutschen Bühnen zu Gast.

»Twee stemmen« (»Zwei Stimmen«) 

Text: Pier Paolo Pasolini und Cor Herkströter
Konzeption und Inszenierung: Johan Simons
Mit: Jeroen Willems

Eine Produktion des NTGent

Aufführungen: 6./7. November 2010, Schaubühne Lindenfels


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