Filmische Fremdgänge

Die Reihe >film plus*< lud zum Filmspaziergang „Home is Where the Heart is“ – Einsendung zum Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011*

Filmstill aus „Die gute Lage“ von Nancy Brandt

Jens Fischer hat sich bereit erklärt. Vierzig Menschen in seinem Schlafzimmer. Jens Fischer wohnt in einem stadtbekannten Haus. Geschichten verschiedener Art ranken sich darum. Ein bisschen DDR-Spuk, Abrissdiskussionen und Erhebungen in den Kultstatus. Die LWB-Plattenbauten am Johanna-Park sind keinem Leipziger unbekannt und trotzdem vielen fremd. Wir kennen Jens Fischer nicht, aber er hat jeden freundlich begrüßt. Dann geht es los: Kein Vorhang fällt, kein plüschiger Sessel, stattdessen Beamer und Betonfußboden. In Jens Fischers Wohnung werden an diesem Abend Anfang August Kurzfilme gezeigt. Für die Öffentlichkeit. Für uns, die Besucher einer Veranstaltung der Galerie für Zeitgenössische Kunst.

>film plus*< nennt sich die Filmreihe, die, angeregt durch das Jahresthema der GfZK >ДОБРО ПОЖАЛОВАТЬ!BIENVENUE!WELCOME!< experimentelle Filmveranstaltungen zum Thema Fremde anbietet. Für den 3.8.2011 konzipierte Kuratorin Luc-Carolin Ziemann einen Filmspaziergang. Thema: Heimat, Wohnen, Zuhausesein. Neun Kurzfilme an drei Spielorten, zwei davon in unbekannten Privatwohnungen.

Treffpunkt 21 Uhr am Café Kafic. Man lässt sich gern auf die organisierte Überraschung ein, und zehn Minuten später sitzen wir also in Jens Fischers Schlafzimmer. Niemand befindet sich in seinem Bett. Allenfalls ein zögerliches Auf-die-Kante-Setzen. Über ihn erfahren wir, dass er Architekt und Stadtplaner ist und werfen einen verstohlenen Blick auf seine Nachttischlektüre. Ob er die wohl genauso überlegt dort platziert hat wie Herr Karpf, der Protagonist in Lola Randls neunminütigem Film „Herr Karpf – Der Besuch“? Bevor dieser den Besuch in seiner Wohnung empfängt macht er sich Gedanken darüber, was sein Zuhause wohl über ihn aussagen mag. Entsprechend räumt er Dinge um und drapiert wohlüberlegt Bücher neben dem Bett. Aus zögerlichen Umstellversuchen wird ein chaotisches Putzen und Verrücken. Bei Jens Fischer ist es aufgeräumt. Unser Blick auf seinen Nachtisch ist unmittelbares Interesse und gleichzeitig Filmreaktion. Oder wird unsere banale Neugier nur durch die vorherige Sichtung des Films gerechtfertigt und wir ertappen uns im eigenen Voyeurismus? Dass es bei diesem Filmspaziergang um mehr geht, als darum, eine diffus spektakuläre Kulisse zu schaffen, wird deutlich. Durch die Umgebung bekommen die Filme eine unmittelbar nachvollziehbare Relevanz. Dies wird spätestens nach dem Beitrag „Die gute Lage“ von Nancy Brandt deutlich. Brandt porträtiert die Bewohner eines Plattenbaus in München Neuperlach. Sie zeigt, dass diese nur teilweise Vorurteilen und Klischees gerecht werden, denn vor allem befindet sich hinter jeder Wohnungstür eine eigene Geschichte. Nach dem Abspann steht Jens Fischer im Türrahmen. Alle blicken ihn erwartungsvoll an. Schließlich erzählt er ein bisschen von sich. Und plötzlich scheint es, als würde er zum Teil einer Inszenierung zu der wir, die Besucher ihn machen. Oder sind wir in diesem Moment selbst Bestandteile eines gesamtkünstlerischen Konzepts? Wie wir dort hocken auf dem Schlafzimmerfußboden und uns für die Wohnungswahlmotive eines wildfremden Menschen interessieren. Zu viel mag Jens Fischer dann doch nicht erzählen aber in der Küche stehen Knoblauchbrote bereit, die hat er extra für uns gemacht. Sie sehen unprätentiös aus und schmecken gut, also drängt man sich noch ein wenig in der schmal geschnittenen Maisonette-Wohnung. Vor allem vor den Fenstern, nicht nur weil es stickig ist; dieser Ausblick! Plötzliches Großstadtgefühl. Wie mondän eine solche Plattenbauwohnung ist, liegt im Auge des Betrachters. „Home is where the heart is“, wirklich treffend das betitelnde Motto dieses Abends.

So gibt es viele gute Wohnlagen. In Leipzig mag die Ferdinand-Lasalle-Allee ein Inbegriff dafür sein. Fast genau dorthin, nämlich in die Hauptmannstraße begeben wir uns nun. Unser Filmspaziergangsleiter weist wie zuvor den Weg. Natürlich wird jetzt Kontrast gewittert. Mindestens architektonischer Art. Wir durchqueren den Park. Hinter uns die Hochhäuser. Darin rasselt vielleicht ein rostiger Aufzug als wir schon vor den stuckverzierten Nobelfassaden stehen. Man lässt uns ein ins gebohnerte Treppenhaus. Schließlich betreten wir die Wohnung des Paares Sebastian Stiess und Karolina Trybala. Fünf Meter hohe Wände, knarzende Dielen, Kronleuchter. Im Wohnzimmer sehen wir Filme, deren Inhalte hier mit der Umgebung kontrastieren. U.a. zeigt Daniel Nocke in seinem Animationsfilm „Kein Platz für Gerold“ eine unstimmige WG-Situation. Das verkorkste Dein-Kühlschrankfach-Mein-Kühlschrankfach-Gespräch am schmierigen Küchentisch scheint in dieser gesetzten Umgebung ganz weit weg. Stattdessen pflegen die Gastgeber ein Faible für 1920er-Jahrepartys, berichtet Sebastian Stiess schwärmend. Ja, bestens kann man sich in diesen Räumen perlenden Champagner und Charleston vorstellen. Erneutes Großstadtgefühl schwappt auf, wenngleich es nun verschwommener scheint, entfernter irgendwie, es mag der Hauch dieses einst existenten sein, Leipzig, Klein-Paris, da war doch was… Wir können es nur erahnen und tun dies ein bisschen auf dem Rückweg zur GfZK. Dort werden die letzten Filme gezeigt. Ein bisschen müde ist man nun schon, vielleicht auch weniger interessiert weil keine Überraschungs-Location mehr folgt. Trotzdem sehen die meisten der rund 80 Teilnehmer sich auch die letzten Beiträge an. Nicht zuletzt deshalb, weil die Idee hinter dem Filmspaziergang mehr war als leeres Eventgehabe. Neugierige Blicke zu wagen, Voyeurismus unter dem Schutzmantel des Kollektivs zu riskieren wurde nicht nur zum Bestandteil des Kunsterlebens sondern auch zum Inhalt einer neuen künstlerisch konzipierten Aussage. Auch der Voyeurismus konnte betrachtet werden, denn die Gastgeber sahen Unbekannten in ihren Wohnungen beim Fremd-Sein zu. So herrschte ein differenzierter und wechselseitiger Bezug zwischen den Filmen und den Vorführsituationen, der für jeden Teilnehmer des Filmspaziergangs einen individuellen Charakter gehabt haben mag. Auch weil auf kreative Weise ein gesellschaftliches Phänomen der Gegenwart widergespiegelt wurde: Die Neudefinierung des Privaten und Öffentlichen. Als Teilnehmer des Filmspaziergangs konnte man sich beim Wandeln zwischen den Bereichen wiederfinden. Die öffentliche Veranstaltung im privaten Wohnraum warf die Frage auf, wodurch sich das Private heute überhaupt auszeichnet. Da öffnen Menschen ihre Türen für Horden von Unbekannten, die, von einer Galerie geschickt, zumindest die Vermutung nahe legen sollten, einen kunstinteressierten (und damit ungefährlichen?) Hintergrund zu haben. Gleichzeitig versuchen Bürger sich vor fremden Blicken zu schützen, indem sie Bilder ihrer Häuserfassaden im öffentlichen Raum des Internets unkenntlich machen lassen. So ist das Private heute vor allem eins: Voller Paradoxien, und damit voller Potenzial für künstlerische Experimente! Ganz offensichtlich bietet Leipzig den Raum dafür.

* Der Text wurde für den Schreibwettbewerb „Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011“ eingereicht, der jährlich vom Leipzig-Almanach auslobt wird. Die Almanach-Redaktion veröffentlicht im Nachgang des Wettbewerbs ausgewählte Einsendungen in unredigierter Fassung.


Rückblick auf die Verleihung des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2011

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