Randfiguren

Christoph Hein stellt seinen neuen Roman im Haus Buches in Leipzig erstmals der Öffentlichkeit vor – Einsendung zum Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011*

„Ausverkauft“, sagt mein Freund. Mit betretenem Gesicht kommt er auf mich zu. Ich hatte ihn schon vor Wochen gebeten, sich um Karten für die Lesung von Christoph Hein aus „Weiskerns Nachlass“, mit der das Haus des Buches die neue Saison einläutet, zu kümmern und war davon ausgegangen, er wüsste um den Bekanntheitsgrad des Autors. Es ist Montagabend, der 5. September, kurz vor 20 Uhr, die Luft ist kühler als in den vergangenen Tagen und wir stehen noch kurz vor dem Gebäude, in das unablässig Menschen strömen. „Es gibt aber eine Leinwandübertragung im Café“, fügt er hinzu.

Wir suchen uns einen Platz, was auch im Café bereits nicht mehr einfach ist. In der letzten Reihe in der Nähe der Bar sind noch zwei Stühle frei. „Ich habe von diesem Hein noch nichts gelesen und wenig gehört“, sagt er. Ich versuche ihn ein wenig einzuführen, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien, Besuch des Gymnasiums in Westberlin, Studium der Philosophie in Leipzig. Weiter komme ich nicht, denn die Lesung beginnt bereits.

Weiskerns Nachlass ist der von Hein-Lesern lang herbeigesehnte neue Roman. Der Held ist aber nicht, wie der Titel vermuten lässt, Weiskern, nicht wie in Willenbrock oder Frau Paula Trousseau, wo die Protagnisten jeweils auch titelgebend sind. Es ist vielmehr so wie in Horns Ende: Der Roman dreht sich um die titelgebende Figur wie um ein leeres Zentrum, um das die Geschichten der anderen Figuren gelagert sind.

Der „Held“ ist Rüdiger Stolzenburg, Endfünfziger, Kulturwissenschaftler mit halber Stelle an einer von Schließung bedrohten Fakultät der Leipziger Universität. Mit einem Gehalt, dass oft unter dem liegt, was seine Studenten monatlich auf dem Konto haben, mit Forderungen des Finanzamtes und keinerlei Aussicht auf die Verbesserung seiner beruflichen wie finanziellen Lage, umweht Stolzenburg der Hauch des Scheiterns. Er wird aber nicht als reines Opfer dargestellt. Stolzenburg erhält gerade dadurch Kontur und Tiefe, dass er irgendwann erwägt mitzuspielen: Ein Student bietet ihm fünfundzwanzigtausend Euro, wenn er ihn durch das Diplom schleust, und eine Studentin verspricht, falls er ihre Diplomarbeit schriebe, sich erkenntlich zu zeigen – Text gegen Sex. Und es ist Stolzenburg, der dabei ist, seine alten Ideale über Bord zu werfen. Warum sollen schließlich immer nur die anderen profitieren? „Unterrichten war ein Geben und Nehmen, so hatte er es einst bei seinen Lehrern der Pädagogik gelernt und nichts anderes praktizierte er, wenn er das Geben und Nehmen ein wenig erweiterte.“

Christoph Hein ist mit seinem Roman ein authentisches Porträt der Gegenwart gelungen, insbesondere der Wirklichkeit der Universitäten zwischen Modularisierung, Drittmitteleinwerbung, Stellenkürzung und Studenten, die ihr Diplom zu erklagen oder sich durch Bestechung zu erwerben bereit sind. Stolzenburg ist zunehmend verbittert und reagiert mit Zynismus. Durch Weiskern, den unbekannten Mozart-Librettisten und Topographen, der weit davon entfernt ist, Gegenstand akademischen Interesses zu sein, und für dessen Werkausgabe sich partout kein Verleger findet, bekommt der Text seine menschliche Dimension: In seiner Bedeutungslosigkeit spiegelt Weiskern auch Stolzenburgs wissenschaftliche wie gesellschaftliche Randposition wider, mit der er sich fortwährend konfrontiert sieht und die existentielle Probleme mit sich bringt – wie die Angst, am Ende seines Arbeitslebens nichts erreicht zu haben.

Die Handlung ist in rasantem Tempo erzählt, ohne stilistische Kapriolen, die Sprache ist schnörkellos und sachlich. Der „Chronist ohne Botschaft“, wie sich Christoph Hein selbst bezeichnet, nutzt für seine analytische Darstellung ein Sprachinstrumentarium, das neutral und präzise, aber dennoch mit einem wohlwollenden Auge die neuralgischen Punkte offenlegt.

Hein liest eine Dreiviertelstunde aus den ersten drei Romankapiteln vor Aufstellern der Zeit, da die Lesung im Rahmen der Reihe „Zeit Forum Kultur“ stattfindet. Daran schließt sich ein Gespräch an, das von der Zeit-Redakteurin Evelyn Finger geführt wird. Leider ist die Fragetaktik Frau Fingers nicht besonders mutig: Als sie wissen will, wie es denn mit dem Studenten, der Stolzenburg zu bestechen versucht hat, weitergeht, antwortet Hein, dass er schon aus vertraglichen Gründe darüber nichts verraten dürfe, woraufhin Finger konstatiert, dass er ja dann sicherlich auch nichts über die Studentin sagen dürfe. Auch im weiteren Verlauf bleibt sie oftmals zu behutsam: Antwortet der Autor einmal unpräzis oder ausweichend, lässt sich Finger bereitwillig führen, anstatt hartnäckig nachzufragen.

Es ist die erste öffentliche Buchpräsentation von Weiskerns Nachlass überhaupt. Dass sie in Leipzig stattfindet, ist ebenso ein Statement des Autors wie logisch: Wohl in keinen seiner Romane, in denen Leipzig als Handlungsort eine Rolle spielt (Horns Ende, Der Tangospieler, zuletzt Frau Paula Trousseau) ist soviel Lokalkolorit eingeflossen wie in diesen: Ob Frege- oder Schwägrichenstraße, ob Café Puschkin, Koslik oder Beyerhaus: Hier und an vielen weiteren Plätzen zeigt Hein, der seit über vierzig Jahren in Berlin lebt, dass er die Stadt nicht nur nicht aus den Augen verloren hat, sondern immer noch starke Sympathien für den Ort hegt.

Sympathien, welche daher auch die Zuhörer für Hein und seinen Auftritt zu hegen scheinen, der andauernde Applaus am Schluss beweist es. „Warst Du eigentlich schonmal im Koslik?“ fragt mein Freund. Da ich verneine, verabreden wir uns kurzerhand dort für die nächste Woche. „Vielleicht ist er ja auch da, ich meine Stolzenburg“, sagt er.

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass

Suhrkamp 2011

24,90€


* Der Text wurde für den Schreibwettbewerb „Friedrich-Rochlitz-Preis für Kunstkritik 2011“ eingereicht, der jährlich vom Leipzig-Almanach auslobt wird. Die Almanach-Redaktion veröffentlicht im Nachgang des Wettbewerbs ausgewählte Einsendungen in unredigierter Fassung.


Rückblick auf die Verleihung des Friedrich-Rochlitz-Preises für Kunstkritik 2011

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